Für den Freiburger Theologen Leo Karrer war das Zweite Vatikanische Konzil, dass genau vor 50 Jahren eröffnet wurde, ein Meilenstein in der Modernisierung der katholischen Kirche. Auch wenn seine Errungenschaften heute auf dem Spiel stünden, lohne es sich noch, für Reformen zu kämpfen.
Vor 50 Jahren versammelten sich 2500 Bischöfe zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Leo Karrer, was sind für Sie als Pastoraltheologe die wichtigsten Beschlüsse?
Leo Karrer: Ich möchte mich nicht auf einen einzelnen Text festlegen, sondern auf die Grunddynamik des Konzils, die damals aufgebrochen ist und die sich in den Beschlüssen und Erklärungen des Konzils wiederspiegelt. Dabei denke ich an die Aussagen des Konzils zur Kirche als Volk Gottes, zur Ökumene, zum Judentum sowie zu den anderen Religionen und vor allem an das Schlussdokument «Freude und Hoffnung». Subjektiv am Befreiendsten war für mich damals die Erklärung über den allgemeinen Heilswillen Gottes für alle Menschen. Das war eine Erlösung aus der kirchlichen Enge, die mich als Kind so hilflos beschäftigt hat, nämlich dass die Menschen ausserhalb der «richtigen» Kirche nicht «in den Himmel» kämen.
Was bedeuten diese Konzilsbeschlüsse für Sie heute?
Diese Konzilsaussagen, vor allem die der pastoralen Konstitution «Freude und Hoffnung» symbolisieren für mich die Öffnung der Kirche auf die Menschen und ihre Welt hin. «Aggiornamento» wurde zum elektrisierenden Zauberwort: Kirche in einem offenen Dialog mit der Welt und mit Andersdenkenden. Freude und Hoffnung sind für mich bis heute zur prägenden Inspiration geworden, auch wenn sich die kirchlichen Verhältnisse radikal verändert haben.
Mit Papst Benedikt XVI. sind jene konservativen Kräfte erstarkt, die die Errungenschaften des Konzils rückgängig machen wollen. Erleben wir derzeit eine Art Kulturkampf in der katholischen Kirche?
In der Tat, wir erleben eine Zeit der offensiven Fixierung auf Kirche als geschichtlich gewachsenes System im Sinne des Kirchenrechts. Aber das kirchliche System hat den aufgebrochenen Prozess nicht mehr im Griff. Denn wohl zum ersten Mal in der Kirchengeschichte hat sich das Konzil innert weniger Jahre sozusagen demokratisiert und an die Basis verlagert: Synoden, Ruf nach Mitsprache der Laien, feministische Aufbrüche, Differenzierung des kirchlichen Betriebspersonals und vor allem eine erhöhte Sensibilität für die Probleme der Menschen und ihrer Welt… Und für diese Dynamik hat das statische, patriarchale und zentralistisch übersteuerte Kirchensystem keine rechtliche Verankerung vorgesehen. Die heissen Reformanliegen wie etwa das Frauenpriestertum werden amtlich tabuisiert. Das System bedient somit sehr beflissen den Phantomschmerz der Ewiggestrigen. Das nenne ich Kulturkampf des Systems gegen die gewachsene Moderne im eigenen Haus.
Halten Sie die katholische Kirche angesichts der Versöhnungsbemühungen mit den traditionalistischen Piusbrüdern überhaupt noch für reformierbar?
Ich hoffe, dass die Dynamik auf Dauer stärker ist als die herkömmliche Statik. Die Erfahrungen sind gar nicht neu. Die Geschichte der Kirche ist trotz aller Veruntreuungen des Evangeliums und trotz des reformbedürftigen Systems eine ungeheuer reiche Weisheits- und Solidaritätsgeschichte, auch wenn die mediale Welt dies kaum zur Kenntnis nimmt.
Woher nehmen Sie die Kraft für den langen Atem, den es in einer Reformstau-Kirche braucht, um zu überwintern?
Um es ganz persönlich zu formulieren: Durch diese konkrete Kirche haben sich vielen Menschen und mir die Zugänge zum Weg und zur Botschaft Jesu eröffnet. Kirche ist nicht nur rechtliches System, sondern auch ein Netzwerk vieler Menschen, die solidarisch und realitätsbewusst ihren Lebensweg gehen. So habe ich auch durch Kirche viele Menschen kennen lernen dürfen, die zu kennen mich dankbar macht. Zudem: Der Hinweis auf ein nicht ideales System entbindet mich nicht von der Eigenverantwortung. Erwachsenwerden muss man auch als Christ selber. Wenn immer es um das Entscheidende im Leben geht, bezahlt man mit sich selber. Und meint das spezifisch Christliche nicht zutiefst das entscheidend Menschliche.
Um so mehr drängt sich die Frage auf: Braucht es ein neues Konzil?
Es bedarf zuerst der Christen und Christinnen, die wohl selber, aber nicht alleine gehen, sondern mit anderen zusammen. Letztlich können wir nicht auf das System Kirche abwälzen, was unsere eigene Verantwortung ist, nämlich einander zum Wein der Lebensfreude und zum Brot der Lebenskraft zu werden. Weiter aber braucht es auch die Vernetzung der Vielfalt. In jedem quantitativen Teil der Kirche ist qualitativ die ganze Kirche anwesend. Das bedeutet grössere Freiheit der Teilkirchen mit Mitsprache auf allen Ebenen. In diesem Sinn sollte ein Dialogprozess in den einzelnen Bistümern und Regionen in Gang gesetzt werden, bei dem um die gesellschaftlich und kirchlich heissen Eisen gerungen wird. Nach einigen Jahren wäre dann ein Konzil einzuberufen, das die wichtigen Impulse dieser Prozesse spirituell und institutionell umsetzt. In diesem Zusammenhang sind auch die Basisbewegungen zu sehen, in der Schweiz zum Beispiel die Tagsatzung, Katholische Dialoge im Romerohaus in Luzern und jüngst die Pfarrei-Initiative.
Was braucht es für eine zukunftsfähige Kirche?
Vielleicht verrät die gegenwärtige Krise der Kirche(n) auch so etwas wie eine «Pädagogik» Gottes. Die Grundfrage jeder Kirchenreform mündet letztlich in die spirituelle Frage: Auf wen setzen wir unsere Hoffnung? Ist es das Vertrauen in die Treue Gottes oder auf die scheinbaren Garantien der Kirche als Institution. Darum schlicht mein Antwortversuch: Man soll die Kirche nicht zu gross und Gott nicht zu klein zu denken.
Leo Karrer, 75, ist emeritierter Professor für Pastoraltheologie der Universität Fribourg. Karrer ist Autor des Buches «Weil es um den Menschen geht: Die Wunden der Kirche und ihre Heilung».