Maturi, empört Euch!

Der Schriftsteller Urs Schaub war am Freitag an der Maturfeier des Gymnasiums Leonhard und lud die Maturandinnen und Maturanden in der Pauluskirche zu einem kleinen Ausflug ein – in eine Stierkampfarena.
 

Ein fataler Irrtum: Raus aus der Gefangenschaft im hellen Licht wähnt sich der Stier in Freiheit. (Bild: Daniel Ochoa de Olza/Keystone)

In Basel-Stadt haben die Maturfeiern stattgefunden. Der Schriftsteller Urs Schaub war am Freitag an der Maturfeier des Gymnasiums Leonhard und lud die Maturandinnen und Maturanden in der Pauluskirche zu einem kleinen Ausflug ein – in eine Stierkampfarena.
 

Urs Schaub

Urs Schaub

Sie haben die Reifungsanstalt Leonhard mit Erfolg durchlaufen. Sie sind begutachtet worden, gewogen und wieder gewogen und als reif eingestuft worden. Dazu gratuliere ich Ihnen von Herzen. Sie haben sich jahrelang vielerlei Zwängen unterwerfen müssen. Aufstehen zu unchristlicher Stunde, ewiges Pünktlich-Sein-Müssen, nicht enden wollende Schulstunden, Lastwagen voller Hausaufgaben, nervenaufreibende Prüfungen, Ängste, kurzfristige Erleichterungen, endloses Berechnen des Notendurchschnitts mit zitternder Hand… und das alles in Zwangsgemeinschaft mit Mitschülern, die man sich nicht aussuchen konnte.

Ausgeliefert waren Sie zudem einer Lehrerschaft, die unerbittlicher, fordernder und unbestechlicher nicht hätte sein können, vermute ich. Und die Matura selbst? Das Anagramm von Matura ist Trauma. Ich hoffe, Sie haben keins.

Ja. Sie haben einiges hinter sich. Und Sie haben den Anforderungen Stand gehalten. Darauf können Sie stolz sein, und bald haben Sie es geschafft: Zwischen Ihnen und der großen Freiheit eines neuen Lebens steht nur noch diese  Feier.  

Plaza de Toros

Während wir hier Ihren Übertritt aus der Schule ins freie Leben feiern, beginnt übrigens in Spanien exakt um diese Tageszeit traditionsgemäss der Stierkampf.

518 neue Reife

Im Schuljahr 2011/12 haben an den fünf Basler Gymnasien 518 Maturandinnen und Maturanden die Prüfungen mit Erfolg absolviert – 25 Personen haben nicht bestanden. Die Misserfolgsquote ist mit 4.6 Prozent die tiefste seit Einführung des neuen Maturitätsregelements im Jahre 2003. Die Berufsmaturitäts-Prüfungen erfolgreich absolviert haben laut Mitteilung des Erziehungsdepartements 350 von 384 Angetretenen, die Fachmaturitätsprüfungen 77 von 108.

– Bestanden haben die Matur folgende Personen des Gym. Bäumlihof, Gym. Kirschgarten, Gym. Leonhard, Gym. am Münsterplatz, Wirtschaftsgyms.

– Die Berufsmaturität erhalten haben folgende Personen an der Kaufmännischen Berufschule sowie an der Technischen, Gestalterischen und Gewerberlichen Berufsfachschule.

– Erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen der Fachmaturitätschule Basel-Stadt.

– Erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen der Handelsmittelschule.

Ich lade Sie zu einem kleinen Ausflug ein. Sie dürfen sitzen bleiben. Stellen Sie sich eine Stierkampfarena vor: plaza de toros. Im Zentrum liegt der Kampfplatz, der Kreis des Lebens und des Todes, abgegrenzt durch eine blutrote Holzbrüstung. Auf der Haupttribüne, die im Schatten liegt, sitzen die Reichen und der Bürgermeister. Da sitzt auch das Orchester, ohne das ein Stierkampf in Spanien nicht denkbar ist. Direkt gegenüber befindet sich das Holztor, aus dem der Stier, eine geballte Ladung Natur, herausbrechen wird, geblendet von einer unbarmherzigen Sonne, die diese Arenahälfte, die Sonnenseite, in gleissendes Licht taucht. Da sind die billigen Plätze, das ist sozusagen die Muttenzer Kurve des Stierkampfs. Da sitzen die wahren Experten, die aficionados, immun gegen die brütende Hitze.

Der Bürgermeister hebt das Taschentuch, das Orchester spielt einen Auftakt. Wenn der Prolog vorüber ist, wird es mucksmäuschen still. Das Tor bricht auf und aus dem Dunkel stürmt ein glänzend schwarzer Halbgott in Tiergestalt, aufgewachsen in den unendlichen Weiten Andalusiens. Auf seinem Rücken flattert fröhlich ein roter Bändel. Der Schmuck des Opfers! Er aber weiss nichts davon. Er bricht aus der dunklen Gefangenschaft in die blendende Freiheit. Ein herrlicheres Bild gibt es nicht, als diese schnaubende, vor Kraft schier berstende Wildheit.

Fehleinschätzung

Es ist aber auch die Momentaufnahme einer tragischen Fehleinschätzung. Das Tier glaubte sich im Dunkeln gefangen und wähnt sich jetzt im Hellen endlich in der Freiheit. Ein fataler Irrtum. Nur wenige Augenblicke währt der Glücksrausch, dann stutzt das Tier und beginnt zu ahnen, begreift endlich, empört sich und dann beginnt ein gemeiner, hinterlistiger Kampf, der mit dem geplanten Tod des Stieres endet. Ein Kampf, dessen Spielregeln für das kreatürliche Geschöpf nicht durchschaubar sind.

Wir kehren zurück. Zu Ihnen.

Ich hoffe inständig, dass Ihr nächster Lebensabschnitt nicht so dramatisch ablaufen wird, wie der Stierkampf.

Aber auch Sie werden früher oder später konfrontiert, auch sie werden stutzen, ahnen und begreifen, dass die Welt da draussen möglicherweise anders funktioniert, als Sie sich das vorgestellt haben. Ich sage das nicht, um Ihnen den Spass zu verderben. Schon gar nicht, um Ihnen die Freude an Ihrem Leben, an Ihrer Zukunft zu trüben. Ich möchte Sie lediglich auf diesen Augenblick des «Stutzens» vorbereiten, der kommen wird, wie das Amen in der Kirche. Und wenn er da ist, der Augenblick, müssen Sie eine Entscheidung treffen. Dafür sind Sie zur Schule gegangen, dafür sind Sie gereift, damit Sie in der Lage sind, eine Entscheidung zu treffen.

To be or not to be

Die Frage wird sein: Nehme ich die Welt an, so wie sie sich mir zeigt oder will ich versuchen, sie zu verändern. Bei Hamlet heisst die Frage auf Leben und Tod: to be or not to be. Sie kennen seinen Text, nehme ich an. Was zwingt ihn, diese Frage zu stellen?  Es ist die Empörung über das, was er sieht, wenn er von seinen Studien aus Wittenberg nach Hause zurückkehrt. Er empört sich. Die Empörung ist die Kraft, aus der heraus er – nach langem Zögern zwar – zum Handeln findet.

Diesen einen grossen Wunsch gebe ich Ihnen, gibt unsere ganze Generation an Sie weiter: Empört Euch und findet die Kraft zu handeln.

Stéphane Hessel

Der Aufruf «Empört Euch» stammt in jüngster Zeit von einem sehr alten Mann, von dem ich Ihnen erzählen möchte. Es handelt sich um Stéphane Hessel und er ist bereits 95 Jahre alt.
Er wurde in Berlin geboren. Die Familie zog nach Paris, seit 1939 ist er französischer Staatsbürger.

Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde Hessel zunächst von den deutschen Truppen festgenommen, ihm gelang aber die Flucht nach London. Nachdem er sich der französischen Widerstandsbewegung gegen die Diktatur und Besetzung, der Résistance, angeschlossen hatte, wurde er von der Gestapo in Frankreich verhaftet, gefoltert und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert.

Hessel war zum Tode verurteilt. Er überlebte nur, weil der Kapo Arthur Dietzsch ihm die Identität eines kurz zuvor verstorbenen Gefangenen verschaffte. Kurz vor Kriegsende gelang ihm die Flucht aus dem Zug auf dem Weg nach Bergen-Belsen.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Hessel Sekretär der neu geschaffenen UN-Menschenrechtskommission, die mit der Erarbeitung der Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen beauftragt wurde.

In seinem kaum 20 Seiten umfassenden Buch Empört Euch!, das bereits eine Million Mal verkauft wurde, spricht er sich für die soziale Sicherheit aller Menschen aus, für die Errichtung einer echten wirtschaftlichen und sozialen Demokratie und für die bestmöglichste Erziehung aller Kinder ohne Diskriminierung.

Er kritisiert den Finanzkapitalismus, die Behandlung von Minderheiten und plädiert für absolute Gewaltlosigkeit und dass keine Macht und kein Gott dem Individuum die Verantwortung abnehmen, sich zu engagieren.

Jeder ist verantwortlich

Hessel bezieht sich auf Jean Paul Sartre, dem Sie während Ihrer Schulzeit auch begegnet sind: Jeder ist als Einzelner verantwortlich. Und erst im Engagement schafft sich das Individuum selbst. Wörtlich sagt er: «Die schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz, ist zu sagen: ‹Ich kann für nichts, ich wurschtel mich durch.› Wenn ihr euch so verhaltet, verliert ihr eine der essenziellen Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit, sich zu empören, und das Engagement, das daraus folgt.»

Also: Empört Euch! Mischt Euch ein! Engagiert Euch! Gestaltet die Welt!

Ein klarer Feind

Halt! Einspruch!  Der Hessel hat gut reden. Seine Welt war noch viel einfacher. Er hatte sich über das Terrorregime der Nazis empört und gegen sie gekämpft. Das war zwar lebensgefährlich, aber da war ein klarer Feind. Heute ist die Welt und die Vielfalt der Ungerechtigkeit so gross und so komplex geworden, dass man als Einzelner doch gar nicht weiss, wo anfangen.

Die so denken – Anwesende natürlich ausgeschlossen – haben sich eine der bequemsten Ausreden verschafft, die man sich ausdenken kann. Natürlich kann ein Einzelner nicht die Finanzkrise lösen oder im Alleingang die Märkte besiegen. Darum geht es ja auch nicht. Abgesehen davon gibt es die gewünschte Klarsicht, die die Verhältnisse einfacher erscheinen lassen, immer erst im Nachhinein. Für jede nachfolgende Generation waren und bleiben die Verhältnisse komplex und schier undurchschaubar, machen wir uns nichts vor.

Nichts als Prothesen

Neu hingegen ist heute die Fülle der Informationen, die uns zur Verfügung steht und vor allem die Schnelligkeit, mit der wir uns informieren können. Wir stehen inmitten der digitalen Revolution und niemand weiss, wo das alles hinführen wird. Seien Sie auf der Hut: Die Sicherheit, mit der Sie all die neuen Apparate bedienen können, schützt Sie nicht dagegen, dass Sie vielleicht von denen beherrscht werden. All diese glänzenden Gerätschaften sind letztlich nichts anderes als Prothesen, die uns in vielerlei Hinsicht Fähigkeiten verleihen, uns erweitern. Das ist wunderbar.

Sie verhelfen uns zu ungeahnten Möglichkeiten, aber sie beschränken auch unsere Sicht, zum Beispiel auf das Format des jeweiligen Bildschirms. Da hat nicht die ganze Welt Platz. Vergessen Sie das nie. Schauen Sie sich wenn immer möglich die Welt mit eigenen Augen an. Die Geräte kauen Ihnen etwas vor. Seien Sie kritisch und neugierig. Bleiben Sie wachsam.

Es ist Ihre Welt

Bleiben Sie ein Mensch, dessen Herz und Geist offen ist für die Nöte anderer Menschen. Kämpfen Sie gegen die Gleichgültigkeit. Fangen Sie in Ihrem nächsten Umfeld an. Die Welt passiert in Winkeln. Mischen Sie sich ein, wo immer Sie Ungerechtigkeit erfahren. Solidarisieren Sie sich mit den Schwächern. Denken Sie sich eine andere Welt aus, stecken Sie andere mit Ihren Ideen an. Gestalten Sie die Welt mit. Es ist Ihre Welt und Sie haben nur diese eine.

In seinem langen Leben habe es Hessel nie an Anlässen gefehlt, sich zu empören, schreibt er. «Suchet und ihr werdet finden. Ohne mich ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann.»

Ein Abstecher zu Wilhelm Tell

Das hat schon Schiller im Wilhelm Tell beschrieben. Erinnern Sie sich?

Tell: Wer ist der Mann, der hier um Hülfe fleht?
Kuoni:
 ’s ist ein Alzeller Mann, er hat sein Ehr 
Verteidigt und den Wolfenschiess erschlagen. Er fleht den Schiffer um die Überfahrt,
 Der fürcht’t sich vor dem Sturm und will nicht fahren.
Tell:
 Wo’s not tut, Fährmann, lässt sich alles wagen. Heftige Donnerschläge, der See rauscht auf.
Ruodi (der Schiffer): 
Ich soll mich in den Höllenrachen stürzen? 
Das täte keiner, der bei Sinnen ist.
Tell: 
Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt,
 Vertrau‘ auf Gott und rette den Bedrängten.
 Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen,
 Versuch es Fährmann!
Ruodi:
 Und wär’s mein Bruder und mein leiblich Kind, 
Es kann nicht sein, s’ist heut Simons und Judä,
 Da rast der See und will sein Opfer haben.
Tell: 
Mit eitler Rede wird hier nichts geschafft,
Die Stunde dringt, dem Mann muss Hülfe werden.
Sprich, Fährmann, willst du fahren?
Ruodi:
 Nein, nicht ich!

Die Fortsetzung kennen Sie.

Ich zitiere noch einmal Stéphane Hessel: «Drei grosse neue Menschheitsaufgaben sind für jedermann erkennbar: Erstens die weit geöffnete und noch immer weiter sich öffnende Schere zwischen ganz arm und ganz reich. Die ärmsten der Welt verdienen heute kaum 2 Dollar am Tag. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kluft sich weiter vertieft. Zweitens die Verteidigung der Menschenrechte und drittens der Zustand unseres Planeten.»

Das schönste Glück

Ein letztes noch: Sollten einige unter Ihnen sein, die wild entschlossen sind, in ihrem Leben glücklich zu werden, verrate ich Ihnen ein Geheimnis – abgesehen davon, dass kein Mensch andauernd glücklich sein kann, das wissen Sie ja – das schönste Glück erwächst aus der Fähigkeit zu handeln, aus verantwortungsvollem Engagement  und dem Mitgestalten der Welt, mag Ihr Beitrag noch so klein sein oder – es erwächst aus der Liebe, die Zuneigung und Respekt beinhaltet. Sollte es Ihnen sogar gelingen, diese beiden Dinge zu kombinieren, dann garantiere ich Ihnen ein erfülltes Leben.

«Yes, we can»

Barack Obama hat seinen ersten Präsidentschaftswahlkampf mit dem Satz «Yes, we can» geführt. Sie erinnern sich und Sie wissen auch, wie die Dinge in Amerika und auf der Welt seither verlaufen sind. Gemessen an der großen Hoffnung, die uns dieses «Yes, we can» gemacht hat, ist es zu wenig gut gelaufen. Das ist eindeutig. Unglücklich an dem Satz war vielleicht das «can».  Denn meist geht es nicht um das «Können», sondern um das «Wollen».

Können tun wir schon, aber wollen wir wirklich? Das Wollen ist nämlich meistens das Problem. Es ist bereits ein eigener Akt. Durch das Wollen finden wir zum Handeln und zum Engagement. Das Wollen steht für sich selbst. Es ist plötzlich da und gibt uns die Kraft, unsere Angst zu überwinden. Also: Sagen wir ab jetzt: Ja, wir wollen! Ich wünsche Ihnen viel Mut dazu.

Urs Schaub ist am 18. April 1951 in Basel-Stadt geboren. Er hat sich nach Studium in Basel und Zürich das Regiediplom der Schauspiel-Akademie Zürich erworben und anschliessend über zwanzig Jahre als Regisseur in der Schweiz, Deutschland und Österreich gearbeitet. Er ist Autor mehrerer Bücher und hat während fünf Jahren das Theater/Tanz/Musik-Haus Kaserne in Basel geleitet. Am 15. August 2012 erscheint im Limmatverlag sein vierter Tanner-Roman «Der Salamander».

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