Mehr Arbeiterkinder an die Unis!

Kinder von Akademikern werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Akademiker, Arbeiterkinder machen überdurchschnittlich oft eine Lehre. Talent und Leistung spielen dabei auch heute noch eine untergeordnete Rolle. Das muss sich ändern, schreibt der Journalist Marco Maurer in seinem Buch «Du bleibst, was du bist».

Kinder aus bildungsfernen Familien brauchen früh Unterstützung (im Bild: Schulunterricht in der Knabenerziehungsanstalt «Auf der Grube» in Niederwangen bei Bern, Juli 1954).

Kinder von Akademikern werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Akademiker, Arbeiterkinder machen überdurchschnittlich oft eine Lehre. Talent und Leistung spielen dabei auch heute noch eine untergeordnete Rolle. Das muss sich ändern, schreibt der Journalist Marco Maurer in seinem Buch «Du bleibst, was du bist».

Dass Sie diesen Artikel lesen, ist ein seltener Zufall. Denn hier schreibt ein Arbeiterkind, das eine Lehre gemacht hat und Journalist geworden ist, über ein Buch eines Arbeiterkinds, das eine Lehre gemacht hat und Journalist geworden ist. In der Gruppe der Journalisten sind Nicht-Akademiker und Arbeiterkinder nämlich eher selten.

An den deutschen Journalistenschulen zum Beispiel existieren sie gar nicht, wie eine Studie der Technischen Hochschule Darmstadt herausgefunden hat. «Kinder von Facharbeitern oder ungelernten Arbeitern, mit dem Blickwinkel und dem Erfahrungshorizont dieser Gruppe» fehlen dort schlichtweg – sie entstammen zu 85 Prozent einem «hohen oder gehobenen Herkunftsmilieu» und zu 15 Prozent einer «mittleren Herkunftsgruppe». Die Sicht der Unterschicht kommt folglich in den Medien kaum vor.

Das Versprechen der freien Marktwirtschaft ist es, mittels Leistung aufzusteigen, aber auch, mangels Leistung abzusteigen. Und doch heisst es auch heute noch oft: Wer in die Kaste der Arbeiter geboren ist, bleibt ein Arbeiter. Und wer in die Kaste der Akademiker geboren ist, muss ein Akademiker werden. «Du bleibst, was du bist» lautet denn auch der Titel des Buchs von Marco Maurer (siehe auch Interview: «Die begabtesten werden oft nicht entdeckt»).

Im Wettbewerb benachteiligt

In Deutschland starten gerade mal 23 Prozent der Kinder aus einer nicht-akademischen Herkunftsfamilie ein Studium. Dieser Anteil ist bei den Kindern von Akademikern mit 77 Prozent 3,3 Mal so hoch. Und in der Schweiz? Im Hauptbericht der Erhebung 2013 zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Studierenden ist nachzulesen, dass 52 Prozent aller Studierenden einer universitären Hochschule aus Familien sind, in denen mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss hat. Weitere 12 Prozent haben mindestens ein Elternteil mit einer höheren Berufsbildung. 

Sind Arbeiterkinder etwa dümmer oder fauler? Manche bestimmt. Unbestritten ist, dass sie im Wettbewerb benachteiligt sind: Während Kinder von Akademikern in Ruhe lernen können, private Nachhilfe erhalten und Eltern haben, die Druck auf die Lehrer ausüben, müssen Arbeiterkinder neben der Schule arbeiten, sich um ihre Geschwister kümmern und haben kein eigenes Zimmer, in dem sie in Ruhe lernen können.

Arbeiterkinder erhalten bei gleicher Leistung sogar schlechtere Noten, wie die Studie «Herkunft zensiert» 2011 mittels eines standardisierten Tests herausgefunden hat. Und sie haben nicht selten Eltern und Lehrer, welche die zarten Pflänzchen ihrer Träume als unrealistische Flausen darstellen, die sie sich aus dem Kopf schlagen sollten. Erreichen sie die Sekundarstufe, dann genügt das. Wer studieren will, muss sich, anders als Akademikerkinder, gegen Eltern und Lehrer durchsetzen.

In «Du bleibst was Du bist» schildert Marco Maurer seinen 22. Geburtstag im Heim seines Sportvereins auf dem Land, zu dem er die alten Freunde aus der Arbeiterklasse und die neuen Freunde aus der Akademikerklasse eingeladen hatte. Nicht nur gab es Streit um die Musikwahl (AC/DC vs. Tocotronic), die Gruppen waren auch räumlich nicht zusammenzukriegen – «sprachen sie mal miteinander, machten sie sich über die anderen lustig; es war eine Party in zwei Lagern».

Die früher sichtbare Grenze zwischen Adel und Volk verläuft heute unsichtbar zwischen Akademikern und Volk.

Die früher sichtbare Grenze zwischen Adel und Volk verläuft heute unsichtbar zwischen Akademikern und Volk. Dass sie in der Schweiz weniger zu spüren ist als im Ausland, ist auch dem helvetischen Milizprinzip zu verdanken: Im Zivilschutz, in der Feuerwehr, in der Schulpflege und im Samariterverein steht die gemeinsame Aufgabe und nicht die individuelle Herkunft im Vordergrund.

Auch ist die Schweiz nicht überakademisiert. Die Lehre ist als solide Ausbildung respektiert, und es gibt nach wie vor Arbeitgeber, die Mitarbeiter nicht nur aufgrund von Papieren und Diplomen beurteilen. Die Chancen, nach einer Lehre in einem einigermassen anständig bezahlten Job zu landen, stehen nicht so schlecht wie im Ausland.

Aber wenn es wirklich die Leistung ist, die zählt, dann muss es das Bestreben des Bildungswesen in der Schweiz sein, die befähigten Arbeiterkinder zum Studium zu bringen – und die unbefähigten Akademikerkinder vom Studium abzuhalten.

Beides geschieht zu selten. Und den Parteien ist es mehrheitlich egal, denn das Proletariat in der Schweiz, also die Unterschicht, besteht zu einem Grossteil aus Ausländern, also Nicht-Wählern.

Wer Arbeiterkindern helfen will, sollte ihr Selbstvertrauen stärken und ihnen bewusst machen, dass sie ihre Träume erreichen und erkämpfen können.

In der früheren Arbeiterpartei, der SP, waren und sind einige Arbeiterkinder anzutreffen – von Berufsschullehrerin Emilie Lieberherr und Heizungsmonteur Willi Ritschard bis hin zu Hans Stöckli, Roberto Zanetti und Jacqueline Fehr. Im aktuellen SP-Parteiprogramm allerdings kommt das Wort «Arbeiter» nur noch in historischem Kontext vor.

Mit Grund, denn den heutigen Menschen will die Partei «aus entfremdeter, fremdbestimmter Erwerbsarbeit befreien». Auch der Aufstieg durch Leistung ist ihr nicht geheuer, sie kämpft an «gegen eine neoliberale Marktideologie, die alle Lebensbereiche dem Prinzip der schrankenlosen Konkurrenz unterwerfen will».

Arbeiterkinder brauchen Mentoren

Wer Arbeiterkindern helfen will, sollte ihr Selbstvertrauen stärken und ihnen bewusst machen, dass sie ihre Träume erreichen und erkämpfen können, im individuellen Kontakt oder als Mentor innerhalb einer Struktur. Der Mutter von Cem Özdemir etwa, dem heutigen Parteichef der deutschen Grünen, sagte die Lehrerin, es es doch egal, ob er sitzenbleibe oder nicht, er werde doch sowieso wieder in die Türkei zurückgeschickt – erst als ein Nachbar, ein Sozialdemokrat, intervenierte, konnte Erstklässler Cem in die zweite Klasse versetzt werden.

Den Hochschulen empfiehlt Maurer, ein Talentscouting-System zu etablieren. Sie erhielten so bessere und motiviertere Talente und die Gesellschaft würde vielfältiger. Alle Arbeiterkinder, mit denen Maurer geredet hat, haben von wichtigen Vorbildern gesprochen, ohne die sie nicht da wären, wo sie heute sind. Ohne Lehrer, Eltern, Verwandte, Bekannte, Trainer, die ihnen alternative Wege aufzeigen, kommen Arbeiterkinder oft gar nicht darauf, dass sie auch in einem ganz anderen Milieu etwas erreichen könnten.

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