«Mich kann man mitnehmen», stand auf einem Kartonschild, das 1953 an einer Schnur um den Hals des knapp siebenjährigen Hanspeter Bobst hing. Seine Eltern hatten ihren Zweitgeborenen mit dieser Botschaft und einem Koffer in der Hand vor dem Badischen Bahnhof abgesetzt. «Mich kann man mitnehmen» – ein Satz, den man normalerweise auf Zetteln an ausgedienten Möbelstücken auf der Strasse liest.
So heisst auch das Buch, in dem Hanspeter Bobst seine Kindheits- und Jugenderinnerungen schildert. «Mein ganzes Leben wurde immer wieder zerfetzt in Einzelstücke», schreibt er. Auch Bobsts Erinnerung an die Zeit davor liest sich nicht wie das Zeugnis einer glücklichen Kindheit. Doch alles, was ab diesem Moment am Badischen Bahnhof folgte, sind Versatzstücke eines andauernden Überlebenskampfs in einer widrigen Umgebung. «Ich musste immer überleben», schreibt er.
Paul Richener ist fünf Jahre alt, als ihn sein Vater auf dem Velogepäckträger an den Dorfrand in Riehen fährt. Eine mürrische Frau nimmt den Jungen in Empfang. Es ist die Ehefrau eines Arbeitskollegen von Pauls Vater. Dieser hat sich überreden lassen, Paul in Obhut zu nehmen. Nur vorübergehend, damit er nicht ins Heim muss wie sein älterer Bruder, heisst es. Pauls Mutter hatte die Familie verlassen, ohne sich um die Kinder zu kümmern. Das hatte sie auch zuvor nicht gemacht.
«Ich erinnere mich nicht, dass irgendjemand nach uns geschaut oder uns gesucht hat. Wir waren immer unterwegs», schreibt Richener über seine Zeit als «Strassenkind im Kleinbasel», die er als nicht sonderlich beschwert in Erinnerung hat. Aber nach dem Weggang der Mutter ist es damit vorbei, es folgt eine elende Odyssee von Pflegefamilie zu Pflegefamilie, vom Kinderheim zum Bauernhof und schliesslich ins Jugendheim, zu dem die Bezeichnung Jugendknast besser passt. Paul Richener erinnert sich in seiner Biografie («Aus dir wird nie etwas») an eine Kindheit ohne Zuneigung: «Vom Fürsorgeamt ist vielleicht alle zwei Jahre mal jemand aufgetaucht. Die haben nur mit der Pflegmutter geredet. Mit mir nie.»
Die Schicksale von Hanspeter Bobst (*1946) und Paul Richener (*1949) sind typisch für Verdingkinder oder «administrativ versorgte» Kinder, denen durch ein dürftiges Sozialwesen, Beamtenwillkür und desaströse Verhältnisse in Pflegefamilien und Heimen grosses Unrecht widerfuhr.
Bobst ist mittlerweile 72 Jahre alt und eine stattliche Erscheinung. In seinem zerfurchten Gesicht unter der blassblonden Mähne zeichnen sich aber die Spuren des Überlebenskampfs ab, den er in seinem Buch beschreibt: seine schrecklichen Erfahrungen als Opfer von sexuellem Missbrauch, sein späteres Leben als sozial Gebrandmarkter.
Bei Richener sind diese Spuren weniger deutlich sichtbar. Er fand sich trotz der misslichen Vergangenheit in seinem späteren Leben gut zurecht, wurde Polizist und schliesslich Gemeindepräsident in Nusshof – ausgerechnet in der kleinen Baselbieter Gemeinde, in der er einst als Gratis-Knecht ausgenützt worden war.
Beide litten schwer genug darunter, dass sie aus ihrem familiären Umfeld gerissen wurden. Aber vor allem auch darunter, dass sie in stetigem Wechsel an Orte verfrachtet wurden, an denen sie keine Geborgenheit fanden, an denen sie schamlos ausgegrenzt und misshandelt wurden.
Und die Fürsorgebehörden schauten jeweils weg. Bobsts amtlicher Beistand war unauffindbar, als er im Alter von 18 Jahren zu Unrecht eines Diebstahls verdächtigt wurde und zwei Monate im Untersuchungsgefängnis Lohnhof einsass. Ganz einfach, weil er als ehemaliges Heim- und Verdingkind automatisch in den Kreis der Verdächtigen gezogen worden war.
«Mehr Knecht als Kind»
Auch Paul Richeners Vormundschaftsvertreterin reagiert nicht, als sie feststellt, dass nicht nur das Bett des Mündels bei der Pflegefamilie in Riehen «verwahrlost» aussieht, sondern auch die Pflegemutter diesen Eindruck hinterlässt. Sie wird als «hotschig» beschrieben, was mit «nachlässig» und «unordentlich» übersetzt werden kann. «Der Pflegeort macht mir keinen guten Eindruck», lautete der Schlusssatz im Besuchsprotokoll. Doch das bewegt die Behörde nicht dazu, das offensichtlich vernachlässigte Pflegekind umzuplatzieren oder es überhaupt zu befragen.
Paul wird schliesslich von seinem Vater aus der Familie genommen, gerät aber fortan vom Regen in die Traufe. Die Mutter interessiert sich nicht für ihn, beim Vater kann er nicht bleiben. Nach einem kurzen Heimaufenthalt geht es zurück nach Riehen zu einer nächsten Pflegefamilie. Die sperrt ihn an den Wochenenden auf dem Dachstock ein, wo er auf einer alten Wolldecke schlafen muss. Es regnet rein. Der Pflegevater missbraucht ihn überdies als Laufburschen. Im Protokoll des Vormunds heisst es: «Nun, die Pflegeeltern scheinen geduldig und wohlwollend zu sein und verlangen von Päuli vorläufig nichts Unmögliches.»
Der Junge ergreift die Flucht und landet schliesslich in einem Kinderheim im vornehmen St.-Alban-Quartier. Wo es aber ganz und gar nicht vornehm zu- und hergeht. Er beschreibt, wie ihn die launische Heimleiterin schlägt, wie er als Hilfskraft so sehr schuften muss, dass kaum Zeit für die Hausaufgaben bleibt. Er ist trotzdem ein guter Schüler. Die Heimleiterin verweigert dem Bub aber den Übertritt ins Gymnasium.
In den Akten fehlt der Hinweis, warum Paul aus der Lehre gerissen und ins Heim eingewiesen wurde.
Paul geht es psychisch, aber auch gesundheitlich immer schlechter, was 1962 einen Lehrer dazu bewegt, eine Versetzung aufs Land in die Wege zu leiten. Er kommt in die kleine Baselbieter Gemeinde Nusshof auf einen Bauernhof. Auch dort muss er sich neben dem Schulbesuch abrackern, bezieht er Prügel. Er ist «mehr Knecht als Kind», wie seine Biografin Dorothee Degen-Zimmermann schreibt. «Die andern Buben mussten schon auch schaffen. Aber sie waren halt daheim, sie waren akzeptiert im Dorf. Weil sie dazugehörten. Das ist man halt nicht, wenn man so dazukommt», so Richeners Worte im Buch.
Die Vormundschaftsbehörde zeigt sich nie in den Jahren, die Richener in Nusshof verbringt. Bis sich für ihn endlich ein Silberstreif am Horizont abzeichnete. In Sissach hatte er eine Lehre als Bauzeichner begonnen – sein Traumberuf. Da taucht auf einmal die Frau von der Vormundschaftsbehörde auf, um ihn abzuholen und ins Basler Jugendheim zu verfrachten – ein beschönigender Name, wie sich Richener im Buch zitieren lässt: «Das Jugendheim war ein Jugendknast, da muss mir niemand etwas weismachen!»
Paul Richener erfährt nicht, warum er aus der Lehre gerissen und ins Heim eingewiesen wurde. Er weiss es bis heute nicht, denn in den Akten, die er zur Aufarbeitung seiner Geschichte eingefordert hat, fehlt der entsprechende Hinweis. «Ich weiss nicht, was ich damals verbrochen haben soll, warum ich meine Lehre nicht weitermachen konnte, das kann doch nicht sein», sagt er heute.
Sexuell missbraucht und eingebuchtet
Hanspeter Bobsts Erinnerungen an seine haarsträubende Odyssee von Kinderheim zu Kinderheim hinterlassen einen noch erschreckenderen Eindruck. Dies vor allem, weil die Greueltat des sexuellen Missbrauchs dazukommt. Das erste Mal ist Hanspeters erster Pflegevater der Täter, der ihn vom Badischen Bahnhof an den Bielersee mitgenommen hatte. Später als 14-Jähriger wird Hanspeter von einem Mann missbraucht, der ihn beim Fussballspielen beobachtet hatte und der ihm wiederholt «einen schönen Batzen» für den Kauf von Fussballschuhen aushändigte.
Zwei Monate sass Hanspeter unschuldig im Lohnhof. Entsprechende Protokolle existieren nicht.
Seine schlimmsten Erinnerungen gehen aber auf seinen Aufenthalt im Kloster Fischingen im Kanton Thurgau zurück. Er war damals 13 Jahre alt und wurde regelmässig vom Abt sexuell missbraucht. «Es ekelte mich so an», beschreibt Bobst die Begegnungen. «Er roch nach Kölnisch Wasser und Alkohol. Ich hatte jeden Tag Angst vor der Nacht. Er kam immer sehr spät, um sicher zu sein, dass die anderen Kinder tief schlafen.»
Die römisch-katholische Kirche hat im Rahmen ihrer Vereinbarung zur «Genugtuung für Opfer von verjährten sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld» 2016 ihre Schuld eingestanden und Bobst eine Summe von 10’000 Franken überwiesen.
Eine Entschädigung dafür, dass er 1965 zwei Monate unschuldig im Lohnhof einsass, hat er aber nie erhalten. Es existieren auch keine entsprechenden Protokolle. Aber Bobst musste nun damit leben, in seinem Umfeld als «Knasti» gebrandmarkt zu sein.
«Den Kindern besser zuhören»
Bobst und Richener haben nun beim Bund ein Gesuch um «Wiedergutmachung» eingereicht. Bis Ende März 2018 können Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aus der Zeit vor 1981 ein Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag einreichen. Maximal 25’000 Franken werden pro Person ausbezahlt. Das Gesuch muss belegt werden, was für Bobst und Richener nach den Recherchen für ihre Biografien kein Problem war. Allerdings stiessen sie in den Archiven auf Lücken. Für viele Betroffene wird es so schwierig, das erlittene Unrecht zu belegen.
Die verlorene Kindheit erhalten die Betroffenen damit nicht zurück. Aber es ist die Anerkennung, dass ihnen grosses Unrecht angetan wurde, was sowohl Bobst als auch Richener für wichtig halten. Dass sie von Bundesrätin Simonetta Sommaruga zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen wurden, erfüllte beide mit Genugtuung. Es war für sie auch Anregung, ihre Geschichten niederzuschreiben oder niederschreiben zu lassen.
Jetzt werden sie ernst genommen, werden sie gehört, was sie als Kinder nie erleben konnten. «Du musst nicht so Zeugs erzählen, das ist nicht wahr», bekam Richener selbst von seinem ältesten Bruder zu hören. Und Hanspeter Bobst schreibt als persönliche Widmung in sein Buch: «Wir müssen den jungen Menschen und Kindern besser zuhören und an sie glauben.»
Dorothee Degen-Zimmermann: «Aus dir wird nie etwas! Paul Richener – vom Verdingbub zum Gemeindepräsidenten», Limmat-Verlag, 2017.
Hanspeter Bobst: «Mich kann man mitnehmen», Mächler-Verlag, 2016.