Barbara Rost hat jahrzehntelang Jugendliche mit Essstörungen behandelt. Das Theaterstück «Alles oder nichts» hat sie als Expertin begleitet. Ein Gespräch über das Wesen dieser Krankheit und die Chancen und Risiken eines Theaterprojektes dazu.
«Barbara Rost hat unser Ansinnen auf Herz und Nieren geprüft», sagt Regisseur Stephan Laur. Die Fachärztin für Psychiatrie begleitete die Konzeptphase von «Alles oder nichts» kritisch und wirkt während der Probearbeiten als Anker im Hintergrund, wenn Sorge um die gesundheitliche Entwicklung von Mitwirkenden oder das Bedürfnis nach einer psychotherapeutischen Beratung aufkam. Das Rüstzeug dafür bringt sie mit: Sie war stellvertretende Chefärztin an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik in Basel und Mitarbeiterin am Universitätskinderspital im Bereich der Psychosomatik.
Barbara Rost, welches waren bei «Alles oder nichts» Ihre wichtigsten Anliegen?
Von vielen Erkrankten und ihrem Umfeld kenne ich das Bedürfnis, diese Krankheit besser zu verstehen. Die Fachwelt kann viele Fragen zu den Ursachen bis heute nicht beantworten. Die Heilungschancen sind begrenzt und das Risiko, an den Folgen einer Anorexie (Magersucht) zu sterben, ist hoch. Das bewegt alle Betroffenen zutiefst und entsprechend gross ist die Bereitschaft, zu einem besseren Verständnis beizutragen. Deshalb habe ich das Projekt grundsätzlich unterstützt. Jugendliche sind in ihrem Kranksein aber auch sehr verletzlich.
Was hiess das für Sie?
Wir haben sorgsam darauf geschaut, dass keine akut kranken Patienten teilnehmen. Menschen mit Essstörungen leiden an einem zwanghaften Perfektionismus. Das, was sie tun, wollen sie so vollkommen wie möglich tun. Häufig nehmen sie dabei ihre Grenzen nicht rechtzeitig wahr, verausgaben sich bis zur totalen Erschöpfung und gefährden sich damit selbst. Das ist eine Dynamik, über die man im Rahmen eines solchen Projektes sehr offen sprechen muss.
«Das Widersprüchliche und Unfassbare dieser Krankheit bietet ein Feld für vereinfachende Erklärungsmodelle.»
Viele Menschen essen wenig oder treiben exzessiv Sport, weil sie abnehmen oder schlank bleiben wollen. Wann ist die Grenze zur Magersucht überschritten?
Die Diagnose einer Essstörung erfordert eine sehr sorgfältige medizinische und psychotherapeutische Abklärung. Frühe Zeichen sind neben einem möglichen Ausbleiben der Menstruation die Veränderung in der Art der Nahrungsaufnahme und die Tatsache, dass das Denken ans Essen immer mehr Platz im Kopf einnimmt. Am Anfang der Krankheit steht häufig, aber keineswegs immer, der Wunsch, schlanker zu sein oder Gewicht zu verlieren. Damit ist das Gefühl verbunden, jederzeit wieder mit dem Abnehmen aufhören zu können.
Doch das geht nicht?
Innert vier bis sechs Wochen verselbstständigt sich der Krankheitsprozess und entgleitet zunehmend der willentlichen Steuerung und Kontrolle. Je länger die Krankheitsdauer, desto zwanghafter wird das Denken und desto schwieriger wird es, gegen die Erkrankung anzukämpfen. Die Anorexie-Behandlung ist ein Wettlauf mit der Zeit. Bei frühem Erkrankungsbeginn und früh einsetzender Behandlung liegt die Heilungschance bei 70 Prozent. In 30 Prozent der Fälle bleiben körperliche und psychische Symptome bestehen. Heilung heisst, frei zu sein von körperlicher und psychischer Symptomatik.
Womit erklären Sie sich, dass die Schwere dieser Krankheit in der Öffentlichkeit nach wie vor verkannt ist?
In der Fachliteratur ist immer wieder vom «Rätsel der Magersucht» die Rede. Die Frage, inwiefern biologisch-genetische, gesellschaftliche und individuelle psychologische Faktoren das Auftreten der Krankheit begünstigen, beschäftigt die Menschen, seitdem über Essstörungen gesprochen und geforscht wird. Wer sich nicht sehr genau damit auseinandersetzt, kann die Krankheit aufgrund ihrer Komplexität kaum nachvollziehen. Die Erkrankten selbst erleben Phasen, in denen sie gesund sein möchten, es aber einfach nicht können. Das Widersprüchliche und Unfassbare dieser Krankheit ist schwer auszuhalten und bietet deshalb ein Feld für vereinfachende Erklärungsmodelle.