Das Behindertenforum der Region Basel lanciert in den beiden Halbkantonen eine Verfassungsinitiative zur Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung. Das nationale Gesetz greife zu kurz.
«Wie kommt es wohl, dass ausgerechnet die wohlhabende Schweiz sich so schwertut mit der Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung?», fragt Sabina Bolliger. Sie bezeichnet sich selbst als «Mutter eines gesunden Sohns, der eine Behinderung hat». Die Geschäftsleiterin der Vereinigung Cerebral lancierte am Freitag gemeinsam mit anderen Fachpersonen mit und ohne Beeinträchtigung die Initiative «Für eine kantonale Behindertengleichstellung».
«Menschen mit einer Beeinträchtigung werden in der Schweiz nicht schlecht behandelt», stellt Bolliger klar. «Sie werden umsorgt und gepflegt. Aber das geschieht oft bevormundend: Als eigenständige, selbstbestimmte Bürgerinnen und Bürger mit Rechten, Pflichten und Fähigkeiten werden sie selten wahrgenommen.»
Das wollen die Initianten ändern. Konkret will das Komitee einen neuen Paragraphen in den Verfassungen von Basel-Stadt und Baselland verankern, der die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung regelt. «Menschen mit Behinderung haben gleichberechtigt mit anderen das Recht auf Zugang zu allen Lebensbereichen», heisst es im ersten Abschnitt. Die Initiative wird in den beiden Basel gleichzeitig lanciert – «schliesslich haben Behinderte überall die gleichen Bedürfnisse», sagt Francesco Bertoli, Präsident des Behindertenforums Basel.
Die nationalen Rechtsvorgaben seien zu wenig verbindlich
Aber braucht es überhaupt eine kantonale Verfassungsänderung? Schliesslich hat die Schweiz doch vor zwei Jahren die UNO-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Das sei ein häufiger Trugschluss, sagt Komiteemitglied Pius Odermatt, Präsident des schweizerischen Blindenverbands: «Die UNO-Behindertenrechtskonvention hat keine direkte Wirkung auf die bundesrechtlichen und kantonalen Gesetze.» Schweizerische Rechtsgrundlage sei das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BehiG).
Dieses bestimme jedoch nur den Zugang zu öffentlichen Bauten, Anlagen, Verkehrsmitteln und Wohngebäuden sowie Arbeitsplätzen ab einer bestimmten Grösse. «Viele wichtige Bereiche im Leben von Menschen mit einer Behinderung sind darin nicht geregelt», sagt Odermatt, «so etwa das Schulwesen, das Gesundheitswesen und die regionale Infrastruktur, also auch das Strassennetz.» In diesen Bereichen seien die Kantone nicht oder nur beschränkt an das BehiG gebunden – «ohne kantonale Verfassungsgrundlage gibt es also keine verbindliche Vorgabe für die Regierungen».
Francesco Bertoli sagt: «Die Schweiz war erst der 141. Staat weltweit, der die UNO-Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat.» Dementsprechend habe das Land auch auf kantonaler Ebene noch einen langen Weg vor sich: Erst Zürich, Genf und Fribourg haben ihre Verfassungen bereits in die Richtung angepasst, wie es die Basler Initiative anstrebt. In Neuenburg wird ein entsprechendes Gesetz erarbeitet. «Die beiden Basel galten einst als Pioniere in der Behindertenpolitik», sagt Bertoli. Von diesem guten Ruf habe man sich heute leider entfernt.
Gebärdensprache als Muttersprache
Speziell berücksichtigt werden im Verfassungsvorschlag des Initiativkomitees auch die Bedürfnisse von Gehörlosen, die an der Medienkonferenz von der Gebärden-Lehrerin und Buchautorin Marina Ribeau vertreten werden. «Ich kann mich mit Ihnen verständigen dank meiner Dolmetscherin», sagt sie, «aber meine Muttersprache ist eindeutig die Gebärdensprache.» Trotzdem sei es ihr zur Schulzeit verwehrt worden, sich in dieser Sprache auszudrücken.
Diese Fehler der Vergangenheit möchte sie nun korrigieren: «Wir Gehörlosen bilden eine Sprachgemeinschaft und haben eine ganz eigene, wertvolle Kultur.» Es sei wichtig, dass die Gebärdensprache als Minderheitssprache geschützt und gefördert werde, ähnlich wie etwa das Rätoromanisch.
Im zweiten Artikel des vorgeschlagenen Paragraphen ist dieser Anspruch geregelt, wenn es heisst: «Menschen mit Behinderung haben gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen kulturellen und sprachlichen Identität, einschliesslich der Gebärdensprache und der Kultur der Gehörlosen.»
Umsetzung soll «wirtschaftlich verhältnismässig» sein
Das ambitionierte Ziel des Initiativkomitees sei es, die nötigen Unterschriften (3000 in Basel-Stadt, 1500 in Baselland) noch vor den Herbstferien zu sammeln. Noch am Tag der Lancierung werde mit der Unterschriftenkampagne auf der Strasse begonnen. «Daran, dass wir die Unterschriften zusammenkriegen, zweifle ich kaum», sagt Bertoli.
Wie so vieles scheitere auch eine gerechtere Behindertenpolitik oft aus wirtschaftlichen Gründen: Es mangelt an Geld. Um der Initiative eine Chance zu geben, sollen die Ziele verhältnismässig sein: «Wir lassen die Bedürfnisse von Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht einfach in den Himmel wachsen», sagt Bertoli. «Die Umsetzung von Massnahmen soll jeweils auf die wirtschaftliche Tragbarkeit für die Kantone hin geprüft werden.»
Ob er denn keine Angst habe, dass dadurch auch das kantonale Gesetz nicht richtig greifen könnte? «Daran wollen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht denken», sagt Bertoli. «Der neue Paragraph bringt auf jeden Fall mehr Verpflichtung und Sichtbarkeit für die Rechte von Behinderten. Denn die Kantone müssten dann mindestens Rechenschaft darüber ablegen, wieso eine Massnahme nicht priorisiert wird, beziehungsweise nicht wirtschaftlich tragbar ist.»
Bertoli weist auch darauf hin, dass von einer behindertengerechten Gestaltung des öffentlichen Raums eine viel breitere Bevölkerungsgruppe profitiert: «Nicht zuletzt auch ältere Menschen und Eltern mit Kinderwägen sind über Rampen und Trottoir-Absenkungen genauso froh.»
Gesetz bedeutet nicht zwingend Umsetzung
Die Initiative solle die Bedürfnisse von Behinderten sichtbarer machen. «Natürlich wollen wir auch politischen Druck aufbauen», so Bertoli. Dass ein Gleichstellungsartikel und die tatsächliche Umsetzung zwei Paar Schuhe seien, das beweise unter anderem die gesetzlich verankerte Gleichstellung der Geschlechter, die bis heute noch nicht gewährleistet ist.
Sabina Bolliger sagt abschliessend: «Ich hoffe, dass wir in den nächsten 50 Jahren mit der Gleichstellung von Menschen mit einer Beeinträchtigung weiter kommen, als wir es in 50 Jahren mit der Gleichstellung der Geschlechter geschafft haben.»