«Mit Stiefeln gegen die Kultur»

Auf den Tag genau vor 25 Jahren beendeten Polizeigrenadiere ein soziales, künstlerisches und urbanistisches Experiment in Basel. Die Alte Stadtgärtnerei wurde mit Gewalt geräumt. Patrik Tschudin hat damals für die «Basler AZ» den Tag dokumentiert. Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir seine Chronolgie der Ereignisse vom 21. Juni 1988 unter dem Originaltitel – und präsentieren den Dokumentarfilm über die Ereignisse in den Monaten und Jahren vor der Räumung.

Eine Gruppe junger Leute sitzt im April 1988 vor der Alten Stadtgärtnerei ASG in Basel. (Bild: Keystone)

Auf den Tag genau vor 25 Jahren beendeten Polizeigrenadiere ein soziales, künstlerisches und urbanistisches Experiment in Basel. Die Alte Stadtgärtnerei wurde mit Gewalt geräumt. Patrik Tschudin hat damals für die «Basler AZ» den Tag dokumentiert. Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir seine Chronolgie der Ereignisse vom 21. Juni 1988 unter dem Originaltitel – und präsentieren den Dokumentarfilm über die Ereignisse in den Monaten und Jahren vor der Räumung.

Die Chronologie des 21. Juni 1988:

04.34: Die Wache auf dem Ausssichtsturm in der Alten Stadtgärtnerei schlägt Alarm: Das Signalfeuerwerk geht ab und aus grossen Boxen dröhnt «Sympathy for the Devil» von den Rolling Stones.

04.35: Die Polizei fährt mit fünf Mannschaftswagen ein. Zwei positionieren sich am Rheinufer, drei halten vor dem Haupteingang. Die Grenadiere in Kampfanzug und Helm stürmen heraus und in die alte Stadtgärtnerei hinein. Sie treffen auf knapp hundert zum Teil schlafende Stadtgärtnerinnen und Stadtgärtner. Einige werden mit der Gummischrotflinte bedroht, andere abgetastet. Widerstand leisten sie keinen.

«Scherben»

Der Kommentar von Toya Maissen in der Rubrik «Links notiert» der «Basler AZ» vom 21. Juni 1988:

Die Scheiben sind eingeworfen. In der Stadtgärtnerei, aber auch in der Freien Strasse. Der programmierte Scherbenhaufen ist da.

Wir fassen zusammen: Dem Rechtsstaat wurde auf dem direktesten Weg Genüge getan. Die politischen Möglichkeiten, den Scherbenhaufen zu vermeiden, ohne dass der Rechtsstaat dabei in Frage gestellt worden wäre, wurden nicht wahrgenommen. Damit reiht sich Basel in den Kreis der Städte Zürich und Bern ein, die ihre Jugend mit Tränengas und Gummigeschossen züchtigen, wenn diese – wie alle Jugend – anders denkt, anders fühlt und anders handelt.

Von der Selbstheilung der Natur ist die Rede in einer Umwelt, in der mit Vorsatz und wissentlich alles zerstört, niedergemacht und ausgebeutet wird, was in die Quere kommt. Das ist das Beispiel, das die Gesellschaft seit Jahren der eigenen Jugend vorlebt. Die Jugendlichen, die gestern geweint, gehofft, demonstriert und Scheiben eingeworfen haben, sind an ihrer Seele beschädigt worden von jenen, die sie zu züchtigen versuchen. Sie haben ihre Lektion gelernt.

Ihre Lehrmeister, die sich aus der Verantwortung stehlen wollen und sich im Brustton der Überzeugung zu Richtern aufplustern, waren miserable Erzieher. Basel hat Grund zur Trauer. Wenn der Gefängnisdirektor glaubt, die Pistole ziehen zu dürfen, dann soll man es doch endlich zugeben, an welchem Punkt die Gesellschaft in dieser Stadt angelangt ist: Sie ist krank.

Die Politik hat diese Krankheit gefördert, nicht nur in der alten Stadtgärtnerei, in der Freien Strasse, sondern in den Parlamenten, den Parteizentralen und den Regierungsgebäuden. Von der Wirtschaft nicht zu reden. An eine Selbstheilung dieser Gesellschaft ist zur Zeit nicht zu denken.

04.41: Nachdem sich die Grenadiere auf dem Gelände postiert haben, werden grund- und wahllos 22 Menschen herausgepickt und «vorläufig festgenommen» (Polizei-Communiqué).

04.52: Die Wagen fahren weg.

05.12: Rund 50 Menschen sind vor dem Eingang der Stadtgärtnerei versammelt und wollen herein. Vor dem unterdessen geschlossenen Tor weint ein Akkordeon «Z’Basel an mym Rhy» in traurigstem Moll.

05.23: Denen, die nicht «vorläufig festgenommen» worden waren, wird der freie Abzug zugestanden.

05.40: In einem Kurzinterview streitet Polizei-Stabschef Robert Heuss jeden Zusammenhang zwischen dem Ende der «Art» und dem Räumungstermin ab.

06.02: Knapp hundert Menschen blockieren vor dem Tor die Linie 15 der BVB.

06.10: Heuss erklärt, man habe eigentlich erst alle Besetzerinnen und Besetzer mitnehmen wollen – lediglich um ihre Personalien festzustellen. Es waren aber mehr Menschen auf dem Gelände als erwartet.

07.31: Vor dem Tor singen zweihundert Kehlen «Let the sunshine in». Ihr Gesang ist für Polizisten-Ohren hinter Gasmasken-Schutzgummi gedacht.

10.00: Von der Seite des Zivilschutzes her wollen einige Leute über die zwei Meter hohe Mauer auf das Gelände klettern. Die Grenadiere antworten mit Gewehrkolbenschlägen von oben. Aus der Gruppe der Demonstrierenden fliegen Steine. Die Grenadiere werfen eine Tränengas-Petarde unter die Menschen.

10.30: Die Pöstlerin bringt die Post für die Alte Stadtgärtnerei.

11.30: Kurt Freiermuth, Boss des Lohnhofgefängnisses, zieht seine Pistole gegen Leute, die ihn daran hindern, Demonstranten zu photographieren.

12.00: Gegen hundert Grenadiere machen sich unterdessen breit in der Alten Stadtgärtnerei. Essen, trinken, lagern dort, wo gestern noch Freiraum war.

Zur gleichen Zeit besetzen etwa 40 Menschen die Kreuzung am Grossbasler Ufer der Johanniter-Brücke.

12.05: Eugenia (die Stazgi-Sau) wird abgeholt und nach Duggingen auf einen Hof in Sicherheit gebracht.

12.40: Die Schaufensterscheiben bei Bäckermeister Jacques Simon gehen zu Bruch.

13.13: Die Abbruch-Arbeiter werden vom Rhein her angefahren.

13.20: Der Voltaplatz wird besetzt. Ein Demonstrant wird angefahren, der Lenker begeht Fahrerflucht. Die Polizei meldet von dort: «Wir haben hier Gas eingesetzt und Gummi.»

13.28: Der Presslufthammer beginnt zu donnern. Gegen den Rhein zu reissen die Arbeiter den Belag auf. Einige Menschen versuchen die Arbeit zu verhindern. Grenadiere drängen sie ab. Der Arbeiter zuckt mit den Schultern und weist auf seinen Chef.

14.15: Grenadiere in Kampfmontur lagern in der Nähe des Schweinestalls und verspeisen ihr Lunchpaket.

14.30: Was nicht niet- und nagelfest ist, wird von den Arbeitern im grossen Glashaus auf einen Haufen geworfen. Zivilschützer gaffen schon lange aus den Fenstern und über die Mauern auf das Gelände herüber.

14.40: Die Demolierung der Glashäuser beginnt. Mit Vorschlaghammer, Schaufel und Eisenstange werden die Scheiben zerschlagen. Die Grenadiere halten weiter Siesta. Von vor dem Gelände ertönen Sprechchöre: «Bullen raus!»

15.00: Ein Mann und eine Frau vom Veterinäramt in weissem Kittel packen die Hühner in weisse Plastik-Container und transportieren sie ab.

15.10: Via Megaphon werden die Arbeiter aufgefordert, ihre Arbeit niederzulegen.

18.00: Der Protestzug setzt sich vom St. Johanns-Tor aus in Bewegung. Gegen 2500 Menschen demonstrieren gegen die Räumung. Während der Demonstration gehen auf dem Weg durch die Innerstadt einige Fensterscheiben zu Bruch und Farbbeutel fliegen gegen den Spiegelhof.

19.35: Der Umzug kommt wieder vor der Alten Stadtgärtnerei an.

Wie erlebten Sie die Stazgi-Räumung?

Vor 25 Jahren wurde die Stadtgärtnerei geräumt, wie Patrik Tschudin und die Basler AZ den Tag erlebten, ist ausführlich geschildert. Aber wie haben Sie den Tag erlebt? Was sind Ihre Erinnerungen an den 21. Juni 1988? Wir sind gespannt und freuen uns auf Ihre Schilderungen im Kommentarfeld.

Mit dem Eindunkeln am Ende des längsten Tages im Jahr beginnen die Stadtgärtnerinnen und Stadtgärtner ernst zu machen mit dem Spruch «macht aus der alten Stadt eine Gärtnerei»: Sie reissen den Strassenbelag vor dem Gelände auf und beginnen eine Feuerstelle einzurichten. Die Polizei reagiert ohne Warnung mit massivem Tränengaseinsatz. Zudem sind Schlägerbanden im Einsatz. Alfredo Fabbri steht daneben.

 

«Die Alte Stadtgärtnerei Basel» – Der Dokumentarfilm von Michael Koechlin für den SWR.

Nächster Artikel