Neue Verkehrsmittel, farbige Wände und mehr Polizei sollen das einst berüchtigste Viertel von Medellín befrieden. Doch hinter den bunten Fassaden herrscht noch immer Gewalt. Unterwegs in der Comuna 13 mit einem Sozialarbeiter, der mit Hip-Hop und Spraydosen für soziale Veränderungen kämpft.
Einst einer der gefährlichsten Orte Kolumbiens präsentiert sich das Viertel Comuna 13 in Medellín heute farbig und freundlich.
Touristen in den Gassen: «Früher war es hier lebensgefährlich», sagt der Sozialarbeiter Kabala.
Ort der Veränderung: Der Laden des Hip-Hop-Kollektivs Kolacho.
Casa Kolacho: Hier gibt es Workshops in Breakdance und Graffiti.
Unterwegs zur Rolltreppe: Ein älteres Paar nutzt die neue Verbindung innerhalb des Quartiers.
Überdacht den Hügel hoch und runter: die Rolltreppe (links) der Comuna 13.
Um acht Uhr abends ist Schluss: Wer später heimwill, muss zu Fuss den Hügel hoch.
Eine neue Gondelbahn dient als Verbindungslinie zum Rest der Stadt.
Erinnerung an die Operation Orion: Die Bewohner der Comuna 13 haben nicht vergessen, wie die Armee ihr Viertel stürmte.
Wo seid ihr? Bis heute werden Opfer der Militäraktion im Viertel vermisst.
Unter den Augen einer an die Wand gesprayten Afrikanerin schlendert ein älteres Paar zum Eingang einer Rolltreppe. Dann gleiten die beiden vorbei an bunt bemalten Fassaden hinunter in tiefer gelegene Teile des Quartiers Comuna 13 in Medellín. Eine Idylle, die auch Touristen anzieht.
Das war einst anders und so lange ist das nicht her. Medellín, die zweitgrösste Stadt Kolumbiens und Hauptstadt der Provinz Antioquia, galt Anfang der 1990-Jahre als einer der gewalttätigsten Orte der Welt. Drogenhandel, organisiertes Verbrechen und Auftragskiller prägten ihren Ruf.
Innovative Nahverkehrskonzepte – der Anschluss der Armenviertel an die Stadt über Rolltreppen und eine Schwebebahn – haben die Stadt in den letzten Jahren befriedet und zu einem Modell für urbane Umgestaltung gemacht. So die offizielle Erzählung. Im Jahr 2012 gewann Medellín den «Sustainable Transport Award», einen Preis für nachhaltigen Transport; ein Jahr später verlieh ihr das «Wall Street Journal» den Titel «innovativste Stadt der Welt».
«Aber so einfach ist es nicht», sagt Kabala. Der 25-Jährige ist Sozialarbeiter und Teil des Hip-Hop-Kollektivs Casa Kolacho. Er lebt in der Comuna 13, dem grössten und berüchtigsten der 16 Stadtteile Medellíns. Rund 140’000 Menschen leben hier. «Wir wollen eine andere Geschichte unseres Viertels erzählen; eine, die auch die dunklen Ecken nicht ausspart», sagt Kabala, den hier alle nur unter seinem Künstlernamen kennen. Und wie so viele dunkle Geschichten in Medellín beginnt auch diese mit Pablo Escobar.
Zwischen Guerilla, Paramilitärs und der Armee
Der berüchtigte Drogenboss baute in den Achtzigerjahren von hier das Medellín-Kartell auf und verdiente mit Kokainschmuggel in die Vereinigten Staaten Milliarden. Als Escobar Ende 1993 von der Polizei erschossen wurde, keimte Hoffnung auf. Auch in der Comuna 13, wo sich einst Bürgerkriegsflüchtlinge und Arbeitsmigranten aus anderen Teilen Kolumbien niedergelassen hatten.
Doch die Hoffnung hielt nicht lange. Anfang der Neunzigerjahre begannen Guerillagruppen wie die «Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens» (Farc) sowie rechte Paramilitärs das von Escobar hinterlassene Vakuum zu füllen. «Denn wer die Comuna hier im Norden von Medellín kontrolliert, kontrolliert den Zugang zur Stadt und die Verbindung zum einzigen Hafen von Antioquia», erklärt Kabala. Als auch noch die kolumbianische Armee mitzumischen begann, waren es drei bewaffnete Gruppen, die um die Kontrolle des Viertels kämpften. Eine explosive Mischung. Um die Jahrtausendwende erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt.
Kabala macht Sozialarbeit mit Hip-Hop: «Sprühdosen und Turntables sind unsere Waffen.» (Bild: Andreas Knobloch)
Kabala bleibt vor einem meterlangen Graffito stehen, das einen Adler, eine Eule sowie einen Elefanten auf blauem Hintergrund zeigt. Begriffe wie Frieden, Kraft, Widerstand sind zu lesen. «Das Bild erinnert an die Operation Mariscal», sagt Kabala. Kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 2002 hatte der konservative Präsident Álvaro Uribe (2002–2010), ein früherer Gouverneur von Antioquia, eine Grossoffensive gegen die Guerilla gestartet.
Sieben Kinder kamen im Kugelhagel der Polizei um, erzählt Kabala. «Daraufhin gingen die Bewohner des Viertels mit Kochtöpfen bewaffnet und weisse Tücher schwenkend auf die Strasse und riefen: ‹Keinen Krieg mehr!›» Die Kampfhandlungen wurden schliesslich eingestellt – ein Erfolg für Zusammenhalt und Gemeinschaft, findet Kabala. Die Operation Mariscal aber war nur ein Vorspiel zu dem, was noch kommen sollte.
Im Oktober 2002 drangen mehr als 3000 Soldaten in die Comuna ein und statuierten ein Exempel. Niemand weiss, wie viele Menschen getötet wurden.
Der Frieden hielt nur kurz. Das gemeinsame Vorgehen von Armee und Paramilitärs gegen die Guerilla gipfelte in der Operation Orion, der grössten städtischen Militäroperation in der Geschichte Kolumbiens. Mitte Oktober 2002 drangen mehr als 3000 Soldaten, unterstützt von gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern, in die Comuna ein und statuierten ein Exempel. Niemand weiss, wie viele Menschen in den Tagen der Operation und danach getötet und vertrieben wurden.
Kabala war damals zwölf Jahre alt. «In einer Woche gab es 14 Tote», sagt er. «Ständig kam es zu Schiessereien, Kugeln schlugen in den Hauswänden ein, Fenster gingen zu Bruch. Man konnte nicht auf die Strasse.» Die Gewalt dieser Tage hat sich unauslöschbar in das kollektive Gedächtnis des Viertels eingebrannt: «Bis heute gibt es ein starkes Trauma. Immer wenn Hubschrauber über das Viertel fliegt, richtet sich der Blick der Menschen besorgt zum Himmel», erzählt Kabala.
Was folgten waren zwei Jahre Ausnahmezustand. Soziale Aktivisten und Bewohner, die verdächtigt wurden, mit der Guerilla zusammenzuarbeiten, wurden verschleppt. Offiziell ist von 300 Verschwundenen die Rede. «Wahrscheinlich sind es viel mehr», so Kabala. Die Verantwortlichen seien nie zur Rechenschaft gezogen worden. «Die Ereignisse aber sind Teil der kollektiven Erinnerung – und die darf nicht verloren gehen», sagt er. «Denn wenn sie verloren geht, dann kann sich das alles wiederholen.»
Mehr als 600 Graffiti zieren heute die Wände. Sie geben den Leuten Stolz und das Gefühl, dass das Viertel ihnen gehört.
Die Erinnerung wachzuhalten, daran arbeiten sie in der Casa Kolacho. Das Hip-Hop-Kollektiv betreibt im Erdgeschoss eines Wohnhauses unweit der Metrostation San Javier, wo auch die Schwebebahn startet, einen kleinen Laden, in dem Sprayer-Utensilien, T-Shirts, Sneaker und CDs verkauft werden, sowie ein noch kleineres Studio. Der Name der Gruppe geht zurück auf einen Freund, der 2009 ermordet wurde. Ein Ort wie dieser sei immer Kolachos Traum gewesen, erzählt Kabala. «Wir haben ihn Realität werden lassen.»
Das Kollektiv besteht derzeit aus neun Leuten; jeder muss mindestens vier Stunden am Tag gemeinschaftliche Arbeit verrichten, das heisst im Laden nach dem Rechten sehen oder sich in einem von der Casa Kolacho angebotenen Kurse über Graffiti oder Breakdance engagieren. Rund 150 Leute nehmen an den verschiedenen Kursen teil – von acht Jahre alten Knirpsen bis zu Nachbarn im Rentenalter sei alles dabei. «Es gibt 60-Jährige, die sprayen», verkündet Kabala nicht ohne Stolz.
Mehr als 600 Graffiti zieren heute das Viertel; einige wurden von Gastkünstlern aus Mexiko, Kanada oder anderswoher gestaltet. Sie sorgen für ein anderes, bunteres Strassenbild. «Sie haben das Grau vertrieben.» Und sie geben den Leuten Stolz und das Gefühl, dass das Viertel ihnen gehört.
Eine orange Raupe durch die Comuna 13
«Kunst und Kultur sind die Lösung gegen die Verarmung des Geistes», sagt Kabala. An der Strassenecke drückt sich ein Polizist in den Schatten eines Wohnhauses, die Pistole im Halfter. In der Casa Kolacho bieten sie Touristen eine Graffiti-Tour durch das Viertel an. Diese soll einen differenzierten Blick auf die Veränderungen im Viertel und die Kraft von Kultur bei der Umgestaltung und «Befriedung des Viertels» vermitteln.
Mit Kabala geht es immer weiter die Steigung hinauf, vorbei an kleinen Tante-Emma-Läden in übereinandergeschachtelten, unverputzten Backsteinhäusern, kleinen Plätzen und vielen bunten Graffitis. Die Bürotürme und Wohnblocks im Zentrum Medellíns wirken von hier oben wie Miniaturen. In Endlosschleife summen die Gondeln der Schwebebahn über die Nachbarhänge.
In diesem Teil der Comuna dagegen erleichtern Freiluftrolltreppen den Aufstieg in den engsten und lange Zeit unzugänglichsten Teil des Viertels. Wie orange Raupen schlängeln sie sich seit Dezember 2011 über eine Länge von 348 Metern, unterteilt in sechs Abschnitte, den Hügel hinauf und überwinden dabei einen Höhenunterschied von 28 Stockwerken.
Die Häuser um die Rolltreppe sind bunt angemalt, aber weiter weg ist von Veränderung nichts zu spüren. Die Rolltreppe hat neue Ausschlussmechanismen geschaffen.
Auf der Aussichtsplattform angekommen, schaut Kabala über die buntbemalten Wellblechdächer. «Die Rolltreppe ist Fluch und Segen zugleich», sinniert er. «Einerseits haben sie die Sicherheit und das Image des Viertels verbessert.» Es sei nun plötzlich als touristisches Gebiet auf der Karte verzeichnet. «Häuser und Dächer wurden angemalt und vermitteln ein freundlicheres Bild. Und gerade älteren Leuten erleichtert die Rolltreppe den Aufstieg.»
Die Rolltreppen für 8,5 Millionen US-Dollar sind Teil eines neuen Nahverkehrskonzeptes für Medellín aus Metro, Schwebebahn – der ersten weltweit, die nicht in erster Linie touristisch genutzt wird – und der gerade eröffneten Strassenbahnlinie. Hinzu kommen über die Stadt verteilte, kostenlose Fahrradverleihstationen, Bibliotheken, Parks und Spielplätze, die die Stadtverwaltung überall neu eingerichtet hat. Besucher aus aller Welt, aus Ciudad Juarez in Mexiko, El Salvador, Honduras, wo sie mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie Medellín in der Vergangenheit, kommen hierher, um sich Anregungen zu holen. Modelo Medellín – Stadt der Hoffnung.
Kabala zeigt auf ein junges Touristenpärchen, das von der Rolltreppe ausgespuckt wird und durch die engen Gassen davonschlendert. «Das hast du früher hier nicht gesehen.» Früher, als es noch lebensgefährlich war, seinen Fuss in die Comuna zu setzen.
«Aber wenn du genau hinschaust, dann sind die Häuser rund um die Rolltreppe bunt angemalt, es gibt Geschäfte, aber weiter weg ist von Veränderung schon nichts mehr zu spüren. Die Rolltreppe hat auch neue Ausschlussmechanismen geschaffen.» Auch funktioniere die Treppe lediglich von fünf Uhr morgens bis acht Uhr abends – die Leute müssen aber nicht selten schon um vier Uhr los und kommen erst nach zehn heim. «Was ist mit denen?», fragt Kabala.
«Früher hatten wir hier bewaffnete Drogenbanden, heute siehst du weiterhin Bewaffnete – nur gehören die eben zur Armee und Polizei.»
«Von den 20’000 Bewohnern hier in der Gegend profitieren nur rund 4000 von den Rolltreppen», rechnet er vor. «Und von den 800 Leuten, die die Treppe täglich nutzen, sind nur 200 hier aus dem Viertel. Es ist in erster Linie ein touristisches Projekt.» Das habe Medellín zwar den Titel innovativste Stadt eingebracht, wirklich innovativ aber sei die Schwebebahn. Die habe das Viertel als Teil der Stadt aufgewertet.
Heute gehört Medellín zu den sichersten Städten Kolumbiens. Im vergangenen Jahr gab es 653 Morde – ein Rückgang um fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr 1991 – zur Hochzeit Pablo Escobars – waren es noch 6349. Fast zehnmal so viele. Wegen des beinahe ganzjährigen frühlingshaften Wetters und seines vielfältigen Nachtlebens wird die Stadt auch immer beliebter bei Touristen.
Noch immer fehlen Perspektiven
«Es ist nicht wie früher, aber es ist auch nicht besser. Es ist einfach anders», sagt Kabala. Denn das Gegenteil von Unsicherheit sei nicht automatisch Sicherheit. «Früher hatten wir hier bewaffnete Drogenbanden, heute siehst du weiterhin Bewaffnete – nur gehören die eben zur Armee und Polizei.» Auch heute ist die Comuna 13 noch das am meisten militarisierte Gebiet Medellíns. Die verstärkte Polizeipräsenz habe zwar geholfen, die Gewalt aber auch ihr Gesicht gewandelt.
Hier oben hat sie das Gesicht eines 22-Jährigen. So alt ist der Bandenchef des Viertels. «Umbringen ist sehr teuer, hinterlässt Spuren und sorgt für höhere Aufmerksamkeit bei der Polizei», sagt Kabala. Die Grenzen mögen für Aussenstehende unsichtbar sein, aber es gibt sie. Die Reviere sind klar abgesteckt. «Die Morde sind zwar zurückgegangen, aber Erpressung und Schutzgelder sind so verbreitet wie nie.»
Auch heute fehlt den meisten jungen Menschen im Viertel eine Perspektive. Und so landen viele doch irgendwann auf der schiefen Bahn, denn die verspricht Prestige und Geld, auch wenn sie oft früh im Gefängnis oder mit dem Tod endet. «Kultur und Bildung können ein Ausweg sein», sagt Kabala. «Unsere Veränderung geht über Hip-Hop. Sprühdosen und Turntables sind unsere Waffen.» Das mag nicht viel sein, aber es zeigt: Es gibt andere Möglichkeiten. Medellín hat sich verändert und verändert sich weiter, der Wandel aber ist noch nicht abgeschlossen.