Auf den Lehrplan 21 prasselt von allen Seiten Kritik ein. Die Basler Lehrerin Gaby Hintermann rät zu etwas mehr Gelassenheit. In ihrem Gastbeitrag sagt sie warum. Dabei nimmt sie Stellung zu den neun grössten Vorbehalten gegenüber dem neuen Lehrplan.
Der Lehrplan 21 verändert die Schule grundlegend
Nein, vieles was heute in Schulen bereits passiert, bleibt gleich. Neu ist, dass der Lehrplan auf einer anderen Denkweise basiert: Er fokussiert nicht mehr auf den Input, sondern auf den Output. Das heisst, er gibt nicht mehr zur Hauptsache vor, was die Lehrerinnen und Lehrer durchnehmen müssen, sondern was die Schülerinnen und Schüler können sollen. Das hat nicht in erster Linie eine grosse Veränderung für die Klassen zur Folge, sondern bedeutet für die Lehrpersonen, dass sie einen anderen Blickwinkel einnehmen müssen.
Daneben wäre zu hoffen, dass sich der Fokus auf das Können in der Art auswirkt, dass Schule für die Lernenden noch mehr Sinn macht, weil sie genauer wissen, warum sie etwas lernen. Diese Form des kompetenzorientierten Unterrichts bedeutet auch, bereits bei der Vermittlung aufzuzeigen, was man mit dem neuen Wissen anfangen kann, also worin der Sinn der neuen Kenntnisse liegt.
Ausserdem wird Schule vielleicht auch ein wenig anstrengender, weil Kompetenzen nicht im klassischen Sinn gelehrt werden können, sondern aktiv von den Schülern und Schülerinnen erworben werden müssen. Dafür ist eine passive Konsumhaltung wenig hilfreich.
Der Lehrplan 21 führt zu einer Geschwätzkultur ohne Wissen
Nein. Die Behauptung von Wirtschaftsvertretern, mit dem neuen Lehrplan sei eine «Geschwätzkultur zu befürchten», stimmt schlicht nicht. Ich bin froh, dass auch in Zukunft mehrheitlich Pädagoginnen und Pädagogen und nicht Wirtschaftsvertreter in den Klassenzimmern stehen und unterrichten werden. Für eine professionelle Lehrperson steht völlig ausser Frage, dass Kompetenz auf Wissen basiert und nicht im luftleeren Raum entsteht.
Auch der kompetenzorientierte Unterricht kommt nicht ohne Vermittlung von Inhalten aus; er muss aber auch Gelegenheiten bieten, Wissen anzuwenden oder ein Können unter Beweis zu stellen. Darauf müssen Lehrpersonen in Zukunft im Zuge des Lehrplans 21 bei ihrer Unterrichtsplanung ein besonderes Augenmerk legen. Sicherlich geht es nicht darum, nur noch über Dinge zu reden, von denen man möglichst keine Ahnung hat, weil man ja alles googeln könnte. Im Gegenteil.
Der Lehrplan 21 ist zu dick
Jein. Der Lehrplan muss definitiv abspecken. Je weniger drinsteht, umso besser. Ein Lehrplan darf kein übersteuerndes Regelwerk sein; er muss das Übergeordnete regeln, nicht die Details. Ich finde es aber falsch, dass man nun so tut, als wären die grafisch gut aufbereiteten 560 Seiten per se total überdimensioniert. Würde man die aktuellen Lehrpläne des Kindergartens, der Primarschule, der Orientierungsschule, der Weiterbildungsschule und von Teilen des Gymnasiums in einem Ordner zusammenführen, kämen ähnlich viele Seiten zusammen.
Der Lehrplan 21 überfordert die Strukturen
Will der Lehrplan 21 das zentrale Element der Kompetenzorientierung beibehalten, braucht er wirklich die viel zitierte Diät. Es ist bekannt, dass selbstständige Schülerarbeit sehr zeitintensiv ist. Will man hier einen Schwerpunkt legen, muss anderes gekürzt werden. Ein abgespeckter Lehrplan bedeutet eine Konzentration auf weniger, dafür exemplarische und wesentliche Kernkompetenzen, die gelehrt und gelernt werden sollen. Nur so bleibt genügend Zeit für die Anwendung und die Prozesse des Kompetenzerwerbs.
Im Moment ist ein Ringen um die Inhalte des Lehrplans im Gange. Verschiedenste Anspruchsgruppen und Fachleute machen ihre Ansprüche geltend. Nun ist wichtig zu erkennen, dass ein Lehrplan nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen oder alle Themen abdecken kann.
Es müssen Prioritäten gesetzt werden, weil auch die Schule als «letzte Klammer der Gesellschaft» ihre Grenzen hat. Auf der einen oder anderen Seite wird es am Ende dieses Prozesses Verlierer geben.
Der Lehrplan 21 führt zu Erfolgs- und Leistungsdruck
Diese Kritik äussern viele Lehrerinnen und Lehrer. Der Fokus auf den Output macht den Bildungserfolg messbar. Die Gefahr besteht darin, dass dies in der Öffentlichkeit häufig zur Forderung führt, dass man nun Ranglisten von guten und schlechten Lehrern erstellen sollte.
Es ist richtig, dass sich Lehrpersonen überlegen sollen, welcher ihr Anteil am Bildungserfolg ist; es ist aber ebenso wichtig zu sehen, dass der Unterricht selber nur einer von vielen Einflussfaktoren ist. Ein Lehrplan oder der Unterricht gibt keine Garantie, dass man etwas lernt – denn lernen muss jeder Mensch selber. Wahrlich keine neue Erkenntnis.
Eltern verstehen den Lehrplan 21 nicht
Es ist richtig, dass von Zeit zu Zeit eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber geführt wird, was in der Schule stattfinden soll, denn Schule ist nicht Selbstzweck, sondern hat einen Auftrag, der ihr von der Gesellschaft gegeben wird. Ein Lehrplan gibt einen gewissen Rahmen vor, damit Schule nicht etwas Zufälliges wird. Er ist aber kein Instrument, das Eltern kennen müssen, um die Lehrpersonen kontrollieren zu können.
Eltern sind nicht die Aufsichtsbehörde der Schulen. Folglich ist der Lehrplan ein Werk für Fachleute, für Pädagoginnen und Pädagogen, und diese werden mit den erstmal etwas befremdlich anmutenden Kompetenzformulierungen (bald) etwas Gescheites anzufangen wissen – weil sie Lehrpersonen sind. Eine Mutter oder ein Vater sollte wissen, dass sich die Schule nicht grundlegend verändern wird. Bei vielem handelt es sich um alten Wein in neuen Schläuchen. Und ganz ehrlich: Wie viel wissen Sie denn über die aktuell gültigen Lehrpläne? Auch diese lesen sich für Laien nicht besonders süffig und gehören an Elternabenden nicht zu den mit Spannung erwarteten Höhepunkten.
Lehrerinnen und Lehrer wollen den Lehrplan 21 nicht
Ich nehme das folgendermassen wahr: Um über den neuen Lehrplan zu urteilen, müsste man sich erst richtig in diesen Entwurf einlesen. Diese Zeit haben viele Lehrerinnen und Lehrer der Volksschule momentan nicht, weil sie hier und heute mit brennenderen Herausforderungen konfrontiert sind als mit einem Lehrplan, der frühestens 2015 eingeführt wird. Bis dahin basiert also vieles auf Vermutungen, Missverständnissen, Befürchtungen und Unsicherheiten.
Dass dies Skepsis auslöst, ist verständlich. Die Basler Lehrpersonen, die sich mit dem neuen Lehrplan beschäftigt und in der Vernehmlassung geäussert haben, weisen auf verschiedene Problemfelder hin, lehnen den Lehrplan aber nicht grundsätzlich ab. Ich gehe davon aus, dass ein Grossteil der Lehrer nach der grosszügig anberaumten Einführungszeit bis 2021 mit dem überarbeiteten Instrument etwas Sinnvolles anfangen kann. Dinge, die weltfremd oder nicht zu leisten sind, werden sich in der Praxis nicht durchsetzen. Das ist auch bei den jetzigen Lehrplänen nicht anders.
Der Lehrplan 21 gängelt die Lehrer
Ich kann diese Kritik verstehen, weil im Schulwesen seit Längerem der Wunsch nach stärkerer Steuerung und Kontrolle zu spüren ist. Es wird versucht, möglichst vieles bis ins letzte Detail zu regeln, statt auf den gesunden Menschenverstand zu setzen. Das demotiviert und verärgert viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer, weil es den Verdacht nahelegt, dass sie bisher generell schlechte Arbeit geleistet hätten und ihnen darum besser auf die Finger geschaut werden sollte.
Diese Misstrauenskultur halte ich für problematisch. Sie passt auch nicht zur Forderung des Basler Erziehungsdirektors und Präsidenten der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Christoph Eymann, dass die Lehrer wieder vermehrt Vertrauen verdient hätten. Diese Kritik nun allerdings eins zu eins auf den Lehrplan 21 zu übertragen, lehne ich ab. Einmal vom überhöhten Detaillierungsgrad und anderen Kritikpunkten abgesehen, eröffnet er mit seiner Kompetenzorientierung und dem stofflichen Freiraum ein Feld für Aktuelles und Kreativität. Darin sehe ich für die Schule eine grosse Chance, sogar wieder ein Stück Freiheit zurückzugewinnen, anstatt zur «Vollzugsmechanikerin» degradiert zu werden.
Der Lehrplan 21 ist ein Fiasko
Von solch pauschalen Verurteilungen halte ich nichts. Der Lehrplan 21 ist weder ein Monstrum noch ein Fiasko. Aber er ist neu. Ich erachte es darum als unfair, den Lehrplanentwurf mit einzeln herausgezupften Beispielen ins Lächerliche zu ziehen und Eltern damit Angst zu machen, dass ihre Kinder in der Schule nichts mehr lernen. Und ich finde es unverantwortlich, Lehrpersonen die Arbeit mit diesem Instrument bereits heute möglichst zu vermiesen, indem man von einem «monumentalen Regelwerk ohne Freiraum» spricht. Das ist demotivierend und wenig hilfreich, denn kommen wird er sowieso – dafür muss man inzwischen keine besonders ambitionierte Hellseherin mehr sein.
Für mich persönlich ist eine richtig verstandene Kompetenzorientierung der richtige Weg und nahe am heutigen Lehrplan der Orientierungsschule, welcher von Lernzielen ausgeht. Der neue Fokus ist für mich zudem ein Bekenntnis zu einem verstärkten Miteinander von Lehrenden und Lernenden. Die Kompetenzstufen geben mir im Umgang mit der Heterogenität in den heutigen Klassenzimmern einen Orientierungsrahmen und – zusammen mit entsprechenden Aufgabensammlungen – Hinweise für gezieltere Unterstützungsangebote.
Ich sehe die Hauptaufgabe der Volksschule nicht darin, möglichst viel Stoff zu vermitteln, sondern Kinder und Jugendliche zu unterstützen, mündige Mitbürgerinnen und Mitbürger zu werden. Dazu braucht es mehr als Fachwissen. Darauf legt der neue Lehrplan Wert.
Es ist mein Beruf, Unterricht so mit Inhalten und Übungsgelegenheiten zu füllen, dass in der Zukunft selbstständige, kompetente und verantwortungsbewusste junge Menschen am öffentlichen Leben teilnehmen können. Der Lehrplan 21 kann mich dabei unterstützen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 24.01.14