Rahim sprintet über den Rasen im Innenhof des Kollegienhauses. Ein Mitspieler hatte den Ball mit einem Holzschläger weit weggeschlagen. Es ist Dienstagnachmittag, die Sonne scheint und einige Mitglieder des Offenen Hörsaals treffen sich zum «Top Danda», einer Art afghanischen Baseballs. Der studentische Verein unterstützt Geflüchtete organisatorisch und finanziell, damit sie je nach Voraussetzung ein reguläres Studium aufnehmen oder am Hörerprogramm teilnehmen können.
Weil er die deutsche Sprache vertieft lernen und in Kontakt mit anderen jungen Menschen kommen wollte, hat Rahim sich für das Hörerprogramm in Germanistik beworben. Rahim, der mit ganzem Namen Abdul Rahim Alizada heisst, fällt durch sein verschmitztes, warmes und gewinnendes Lächeln auf. Ein junger schlanker Mann in Jeans und T-Shirt, mit einem Rucksack auf dem Rücken. Er sieht fröhlich aus beim Spiel.
Vor drei Jahren ist Rahim alleine, ohne Familie oder Freunde, aus Afghanistan geflohen. Er ging zu Fuss durch die Wüste und über Berge. Bezahlte viel Geld für die organisierte Flucht durch Iran, Türkei, Kroatien und Mazedonien.
Seit anderthalb Jahren wohnt der 24-Jährige in Aarau, sein Leben als Teppichknüpfer im afghanischen Ghazni ist heute nur noch Erinnerung. Vom Offenen Hörsaal erzählte ihm ein Freund. Im Gespräch wirkt Rahim nachdenklich. Wirklich angekommen ist er noch nicht. Ob er bleiben darf, ist ungewiss. Sehr gerne würde er regulär studieren, doch obwohl er die Schule abgeschlossen hat, kann er keinen anerkannten Schulabschluss vorweisen, geschweige denn einen Bachelor-Abschluss.
Das Studium bleibt also erst mal ein Traum. Deshalb sucht Rahim zunächst nach einem Praktikum im handwerklichen oder technischen Bereich, wo er gerne eine Lehre beginnen würde.
Hohe Hürden an der Uni: Nur sechs Geflüchtete haben sie genommen
Je nach Herkunftsland gelten andere Voraussetzungen für die Zulassung zum Studium. «Ein Bachelor-Abschluss hilft, ist aber keine Garantie», sagt Aurelia Rohrmann vom Offenen Hörsaal. Ansonsten ist die Ecus-Prüfung Voraussetzung für das reguläre Studium. Mit ihr wird abgeklärt, ob das Bildungsniveau von ausländischen Studienbewerbern demjenigen der schweizerischen Matur entspricht. Die Ecus kostet 1000 Franken Prüfungsgebühr – und circa 10’000 Franken für den Vorbereitungskurs. «Das können die meisten Geflüchteten nicht aufbringen», sagt Rohrmann.
Der Offene Hörsaal will auf die Problematik der Bildungsgerechtigkeit hinweisen, denn es ist äusserst schwierig für Geflüchtete, ein reguläres Studium aufzunehmen. Der Verein fände es fair, wenn die Vorbereitungskurse unter gewissen Umständen vom Kanton übernommen würden: «Wir setzen uns für Bildungschancen für alle ein», sagt Rohrmann.
Die akademischen Hürden für ein Studium sind und bleiben aber hoch. «Es ist eine grosse Frage, was in diesem Fall gerecht ist», sagt Nele Hackländer von den Student Services der Uni Basel: «Es gibt ja auch die sogenannte positive Diskriminierung: das hiesse, niedrigere Massstäbe für Geflüchtete zu setzen. Das wollen wir bewusst nicht.» Die hohen Hürden gälten schliesslich auch für Schweizer und die Universität habe in erster Linie ein akademisches und kein soziales Anliegen.
Wenn jemand grundsätzlich die Anforderungen erfülle, aber Dokumente fehlten, befasse sich die Universität intensiv mit dem Einzelfall und rekonstruiere nach Möglichkeit das Studium im Herkunftsland. Wie viele Menschen mit Flüchtlingsstatus an der Universität Basel studieren, wird nicht erfasst. «Es werden aber kaum mehr sein als die sechs, die über den Offenen Hörsaal studieren», sagt Nele Hackländer. Denn die Erfahrung zeige, dass es ohne Begleitung kaum möglich sei. «Ausser, die Personen sind sprachlich schon extrem fit und integriert.»
Begleitung als Starthilfe
Der Offene Hörsaal begleitet Studierende vier Semester lang und leistet Starthilfe an der Universität, auch bei Papierkram und Büroangelegenheiten. «Aber wir können eben nur einen Abschnitt des Weges begleiten», sagt Aurelia Rohrmann. Und der führe zuweilen weg von der Uni: «Für viele Interessierte geht es in Gesprächen bald um Alternativen zum Studium.» Aber auch das sei oftmals schwierig: Nur wenige Lehrbetriebe würden Geflüchtete ohne dauerhafte Aufenthaltsbewilligung aufnehmen.
Für das Hörerprogramm bietet der Verein um die 20 Plätze an, von denen momentan nur zwölf belegt sind. Für das reguläre Studium gibt es keine Obergrenze. Sechs Geflüchtete studieren derzeit begleitet durch den Offenen Hörsaal.
Dass die Plätze fürs Hörerprogramm nicht ausgelastet sind, liegt auch an den Sprachkenntnissen der rund 30 Bewerberinnen und Bewerber pro Semester. Sie brauchen ein Niveau, mit dem sie den Vorlesungen gut folgen können. Ab dann finanziert der Verein weitere Sprachkurse. Um Interessierte zu erreichen, wirbt der Offene Hörsaal auf Social Media, über andere Organisationen in Basel und ehemalige Teilnehmende. Die Koordinationsstelle Freiwillige für Flüchtlinge Basel verteilt ihre Flyer in Asylbewerberheimen. Geplant ist eine Zusammenarbeit mit dem Kurszentrum K5, das Deutsch- und Integrationskurse anbietet.
Buddy-System und neue Netzwerke
Gegründet wurde der Verein Offener Hörsaal im Herbst 2015 von Mitgliedern der Amnesty-Gruppe Basel. Vorbild war die Freiburger Uni für Alle. Der Offene Hörsaal war das erste Projekt dieser Art in der Schweiz. Zürich, Bern und Genf sind inzwischen nachgezogen.
Im Zentrum steht in Basel das Miteinander: Jeder Teilnehmer bekommt einen «Buddy» zur Seite, der ihn oder sie begleitet. Der Verein sucht weitere solche ehrenamtliche Mitarbeitende, um möglichst viele Geflüchtete begleiten zu können. Und auch wenn sich Aurelia Rohrmann und das ganze Team sowohl mehr Teilnehmende als auch Mitarbeitende wünschen: Für einige ist das Projekt bereits ein grosser Gewinn.
Rahim hat gute Kontakte geknüpft. Er machte mit beim Konzert «Klänge aus Afghanistan» im Unternehmen Mitte vor einigen Wochen, organisiert vom Offenen Hörsaal. Seine Leidenschaft gilt der Musik, er spielt die Dambura. Dieses afghanische Saiteninstrument beherrscht er virtuos und konzertreif. Einen Lehrer hatte er nie, das Spielen hat er sich selbst beigebracht. Über das Internet? «Oh nein! Wir hatten kein Internet. Ich habe stundenlang Kassetten gehört und nachgespielt.» In Afghanistan musste er heimlich üben, Musizieren war aus religiösen Gründen verboten. Die neue Freiheit, überall Musik machen zu können, geniesst er. Und doch: Seine ungewisse Zukunft in der Schweiz besorgt ihn.
«Wie Bruder und Schwester»
Der Eritreer Yeabio Melake ist überzeugt, dass er es ohne den Offenen Hörsaal nicht an die Uni geschafft hätte. «Mein Buddy Bettina hat mir so sehr geholfen! Ohne sie könnte ich nicht studieren», sagt er. «Die Buddys sind das Wichtigste am Programm. Wir sind inzwischen wie Bruder und Schwester.»
Der ehemalige Geschichtslehrer studiert in Basel African Studies. Nach dem Master würde er gerne eine 50-Prozent-Stelle annehmen und in der restlichen Zeit doktorieren. Auch wenn seine Familie noch in Eritrea ist: «Zurückzugehen ist aus politischen Gründen absolut nicht möglich», sagt der 36-Jährige. Ebenso wie Rahim wünscht er sich sehr, eine Zukunft in der Schweiz zu haben.
«Der Offene Hörsaal hat mir Türen geöffnet», sagt Melake. Die Unterstützung habe er als Geschenk erlebt, das er weitergeben möchte. Seit diesem Semester ist er deshalb selbst Buddy: Er begleitet und hilft Teferi aus Äthiopien, der gerne an der Universität Basel regulär studieren möchte.
Der Offene Hörsaal sucht weitere Buddys und Unterstützerinnen. Kontakt und Infos hier.