Nach dem Hype um die Spiele-App Pokémon Go sind die ersten Zahlen verfügbar: Bis zu 40 Minuten am Tag jagen iPhone-Nutzer nach virtuellen Monstern – auch bei der Arbeit. Die private Handynutzung am Arbeitsplatz wird zunehmend zum Problem.
Die Welt ist im Pokémon-Fieber. Millionen Menschen irren mit ihren Smartphones durch die Städte auf der Jagd nach Monstern und Pokébällen. An allen Ecken und Enden werden Pokéstops platziert, an denen die Spieler Monster fangen können. Es gleicht einer virtuellen Schnitzeljagd. Firmen verschenken Gutscheine, wie der Mineralöl-Konzern Exxon Mobil, der Tankgutscheine an Pokémon-Spieler verteilt, die Tiere an Esso-Tankstellen einfangen.
Laut dem Analysedienst Sensor Tower verbringen iPhone-Nutzer in den USA durchschnittlich 33 Minuten am Tag mit Pokémon Go – mehr als auf Facebook (22 Minuten), Snapchat (18 Minuten) oder Twitter (ebenfalls 18 Minuten). Die Erhebung wurde am 11. Juli 2016 durchgeführt, einem Montag, also einem repräsentativen Werktag. Laut einer Statistik der Analytics-Firma SimilarWeb wurde die Spiele-App in den USA am 8. Juli, dem davorliegenden Freitag, im Durchschnitt 43 Minuten lang genutzt. Die unterschiedlichen Zahlen müssen kein Widerspruch sein, sondern könnten sich dadurch erklären, dass gegen Ende der Woche die Konzentration abnimmt und die Zerstreutheit zunimmt. Die Jagd nach virtuellen Monstern kann da eine willkommene Ablenkung vom drögen Berufsalltag sein.
Monster im Büro
Dabei könnte sich Pokémon Go als veritabler Produktivitätskiller erweisen. Denn die Gamer spielen nicht nur in ihrer Freizeit, sondern auch auf der Arbeit. In einer repräsentativen Umfrage, die das Wirtschaftsmagazin «Forbes» durchführte, gab ein Drittel der gut 66’000 Befragten an, mehr als eine Stunde Pokémon Go während der Arbeit zu spielen. Ob hinterm Kopierer oder neben der Tastatur – so mancher enthusiastische Gamer jagt selbst im Büro virtuellen Monstern nach.
Das dürfte die Vorgesetzten nicht gerade erfreuen. Auf Twitter posteten Beschäftigte munter über ihr Zuspätkommen auf der Arbeit, weil sie noch mit der Jagd nach virtuellen Monstern beschäftigt waren oder an Pokéstops hielten. Im Internet machte ein Warnhinweis die Runde: «Sie werden dafür bezahlt zu arbeiten und nicht den ganzen Tag fiktionalen Videospiel-Charakteren mit ihrem Smartphone hinterherzujagen. Heben Sie es für Ihre Mittagspause auf. Ansonsten haben Sie genügend Zeit als Arbeitsloser, sie alle einzufangen.» Ein Neuseeländer kam dem zuvor und kündigte seinen Job als Barkeeper in Auckland, um sich im ganzen Land auf die Suche nach allen 151 Fantasiefiguren zu machen. 20 Busfahrten hat der «Vollzeitmonsterjäger» dafür gebucht.
Arbeitsrechtlich ist die Sache klar: Die private Nutzung des Smartphones am Arbeitsplatz bedarf der Einwilligung des Arbeitsgebers. Der Arbeitgeber kann die Handy-Nutzung einschränken oder sogar verbieten. Zwar wird kein Vorgesetzter etwas dagegen haben, wenn der Angestellte gelegentlich seine Facebook- oder Whatsapp-Nachrichten checkt, sofern er sein Arbeitspensum erfüllt. Doch wenn die Smartphone-Nutzung exzessiv wird, kann das eine Kündigung rechtfertigen und sogar strafrechtliche Konsequenzen wegen Arbeitszeitbetrugs nach sich ziehen. Das Problem ist, dass der Arbeitgeber – wenn er den Angestellten nicht gerade bei der Pokéball-Jagd in den Fluren ertappt – die private Handynutzung am Arbeitsplatz schwerlich nachweisen und schon gar nicht kontrollieren kann.
Im Dienste der Tech-Giganten?
Laut einer Untersuchung der Risikokapitalgeber Kleiner Perkins Caufield & Byers (KPCB) verbrachten erwachsene US-Amerikaner 2015 im Durchschnitt 5,6 Stunden pro Tag mit digitalen Medien – mit Facebook, Snapchat und Instagram. Das ist fast das Pensum eines Arbeitstags, mehr Zeit als ein Halbtagsjob. Das Smartphone-Spiel Pokémon Go wird gewiss auch Zeitkontingente von Facebook oder Twitter auffressen. Doch in diesem Licht wird deutlich, dass die Tech-Konzerne und Unterhaltungsindustrie mit Arbeitgebern um Aufmerksamkeit konkurrieren. Die Jagd nach virtuellen Monstern oder das Chatten mit Freunden ist nur vordergründig eine Freizeitbeschäftigung. In der Aufmerksamkeitsökonomie geht es darum, unsere Zeitkonten in Besitz zu nehmen.
Der Datenjournalist Mark Fahey rechnete in einem Artikel für den Sender «CNBC» vor, dass Facebook allein in den USA für einen hypothetischen jährlichen Produktivitätsverlust von annähernd 900 Milliarden Dollar verantwortlich ist. Das entspricht dem anderthalbfachen Bruttoinlandsprodukt der Schweiz. Legt man eine durchschnittliche Nutzungszeit von 20 Minuten am Tag und den derzeitigen Mindestlohn in den USA von 7,25 Dollar pro Stunde zugrunde, käme man auf einen hypothetischen Verdienstausfall von 882 Dollar pro Jahr pro Beschäftigtem (hypothetisch, weil der Arbeitnehmer ja trotzdem produktiv sein kann, indem er effizienter arbeitet). Man muss dabei die Frage stellen, ob wir heute noch vollumfänglich für unsere Arbeitgeber tätig sind oder schon im Dienste der Tech-Giganten stehen. Indem wir Fantasiefiguren suchen oder chatten, geben wir kostenlos Daten preis und erbringen gegenüber Facebook oder Nintendo eine Arbeitsleistung. Der Lohn ist dabei der Spass.