Popscheisse ist Crack fürs Volk

Schweizer Musiker seien heute nüchtern und seriös, heisst es. Das wäre nicht weiter schlimm. Schlimm ist aber, dass die breite Masse nur noch geschliffenes und belangloses Zeug vorgesetzt bekommt.

(Bild: Nils Fisch)

Schweizer Musiker seien heute nüchtern und seriös, heisst es. Das wäre nicht weiter schlimm. Schlimm ist aber, dass die breite Masse nur noch geschliffenes und belangloses Zeug vorgesetzt bekommt.

Die heutigen Musiker sind leistungsorientierte Abstinenzler. Sex, Drugs and Rock ’n‘ Roll war gestern, schrieb eine Gratiszeitung neulich. Verwundert legte ich meine Crack-Pfeife zur Seite.

Polo Hofer und Baschi seien die einzigen verbliebenen Schweizer Rocker alter Schule, meinte Musikproduzent Roman Camenzind, den man im Bericht paradoxerweise zu Wort kommen liess.

Wenn ich wissen möchte, wie lange das Intro für einen Naturaplan-Werbetrailer höchstens sein darf, ohne dass es die Prägnanz für den geneigten Konsumenten verliert, würde ich unbedingt Roman Camenzind fragen. Ohne Frage ein geschickter Geschäftsmann, bestimmt kein schlechter Musiker und ein brillanter Netzwerker. Aber Bezug zur wirklichen Musikszene Schweiz attestiere ich ihm etwa gleich viel wie einer freikirchlichen Sonntagsschullehrerin zu Gruppensex-Orgien.

Manche Musiker mögen tatsächlich nüchterne Streber sein. Andere schaffen es einfach, ihr Saubermann-Image bis kurz vor dem totalen Absturz aufrechtzuerhalten. Dass also in der Schweiz als erfolgreich wahrgenommene Musiker wenig mit dem gängigen Rockstar-Image zu tun haben, macht eigentlich Sinn und kann oberflächlich betrachtet als wahr bezeichnet werden.

Bekifft in der Hölle des Öden

Eine weitere Künstlerin, die in besagtem Bericht vorkam, war Evelinn Trouble, die uns mit ihrer einnehmenden Erscheinung und ihrer umwerfenden Musik direkt in die eigentliche Kernaussage dieser Kolumne tragen wird. Trouble ist zur Zeit eine der beeindruckendsten Schweizer Musikerinnen. Live, auf Band und als Gesamterscheinung. Sie ist auf eine gesunde Art krank und aufrüttelnd und vo rallem eines nicht: nüchtern.

Trouble ist dem Mainstream nicht bekannt. Noch nicht. Vielleicht wird sich das jetzt ändern. Denn laut dem erwähnten Bericht ist die gute Frau jetzt clean. Kifft und säuft nicht mehr.

Das finde ich schade. Letztes Mal, als wir uns sahen, hat sie mir an den Swiss Music Awards eine fette Haschisch-Zigarette unter die Nase gerieben. (Oder ich ihr? Ich weiss nicht mehr.) Betrunken waren wir auch. Wir waren nämlich in der Höhle des Löwen oder besser gesagt in der Hölle des Öden, eben an den SMAs.

Was heisst hier Schweizer Musikszene?

Und damit sind wir definitiv beim Kern des Problems angelangt. Denn der Stein des Anstosses meiner künstlerischen Empörung ist nicht der Fakt, dass die Schweizer Musikszene nüchtern und langweilig ist, sondern die Definition von Schweizer Musikszene. Denn mir ist egal, ob ein Künstler ein abstinenter, monogamer und total durchgeplanter Businessman ist oder ein zugedröhnter Wirrkopf auf einem LSD- oder MDMA-Trip. Mich interessiert die Musik. Und die ist für mich dann am besten, wenn sie mich nicht einlullt, sondern aufwühlt. Diese Musik spielt in der Schweiz überall – ausser in der breiten Öffentlichkeit.

Die Musikszene, wie ich sie kenne, schläft nie, tüftelt nächtelang an Sounds und Klangwelten, jamt im Rausch oder berauscht sich am Jam und ist permanent unterwegs. Sie lotet Grenzen aus, eckt an und hat Krisen. Sie ist laut, ungehobelt, chaotisch und doch workaholic. Sie zieht sich in einem feingliedrigen Netz aus Übungsräumen, Studios und Experimentierräumen über das ganze Land – die ganze Welt.

Musiker, Medien, Produzenten – alle unterwerfen sich dem Diktat der Belanglosigkeit.

Mehrmals pro Woche zerren sie das gesamte Equipment aus ihrem Raum, laden alles in den Bandbus, legen Hunderte von Kilometern zurück auf ihrem Weg zu kleinen Clubs, schlecht bezahlten Gigs und durchzechten Nächten. Ab und zu ein Lichtblick, ein Erfolgserlebnis, etwas funktioniert. Dann wieder Enttäuschung, Verunsicherung, Selbstzweifel. Und das ständige Erklären gegenüber der Gesellschaft. Ja, ich bin Musiker. Das ist mein Leben.

Diese Kämpfe, diese Welten, dieses Potenzial werden der Gesellschaft, gerade in der Schweiz, immer mehr vorenthalten. Denn um die Massen zu erreichen, muss man anscheinend alles schleifen, alles runterbrechen, alles belanglos machen. So spielen Radios nur gewisse Songs und Künstler in «heavy rotation», die Plattenfirmen halten ihre Produzenten dazu an, sich an die Standards zu halten. Musiker suchen diese Produzenten auf, um endlich einen Hit zu landen und vor vollen Hallen zu spielen. Eine fatale Verkettung.

Und alle leiden darunter: Die Musik(er), die Medien, die Produzenten. Alle unterwerfen sich dem Diktat der Belanglosigkeit. So kommt es, dass Soundtüftler zu Mainstream-Produzenten werden und Dichter ihre Texte vereinfachen, bis sie der Hinterste und Letzte mitgrölen kann.

Keinen Dreck besser bin ich. Über die SMAs ablästern, aber auf dem roten Teppich jeden Seich mitmachen.

Und da sitzen sie dann an den Swiss Music Awards und berauschen sich, um diesen Event zu ertragen, der mit ihrer Welt so wenig zu tun hat, aber doch das magische M wie Musik im Namen trägt! Was machen sie da überhaupt?! Wieso geht ihr da überhaupt hin? Wieso gebt ihr Interviews in diesen Mainstream-Medien? Jeder von euch würde doch den Artikel in der Gratis-Zeitung posten oder den Award dieses bösen Mainstream-Events in Empfang nehmen!

Wartet, lasst mich erst noch einen Zug von meiner Crack-Pfeife nehmen!

Ihr habt recht (Rauch rausgepustet), keinen Dreck besser bin ich. In jedem Promiformat rumeiern und ein bisschen beatböxeln. Über die SMAs ablästern, aber auf dem roten Teppich jeden Seich mitmachen.

Stimmt. Das ist ein Dilemma, das gerade ich oder eher meine Kunstfigur Knackeboul (die ist schuld!!) kennen. In einem kleinen wirtschaftlich orientierten Land mit einem sehr überschaubaren Publikum teilen sich ein paar Plattenfirmen, Veranstalter und andere mit Musik nicht verwandten Firmen den gesamten Aufmerksamkeitskuchen.

Fordert die Musik heraus? Ist sie authentisch? Wagt sie was? Ja? Gut!

Als kleiner Knilch muss man sich da ab und zu reinwagen und versuchen, zumindest ein Stückchen zu erhaschen. Doch ich persönlich beurteile den Musiker, egal wie er sich verhält, an seiner Musik. Fordert sie heraus? Ist sie authentisch? Sprengt sie Grenzen? Wagt sie was? Ja? Gut!

Denn das ist die Zuflucht des Künstlers. Egal wie schlecht die Umstände, wie ungerecht die Bedingungen und wie verhurt der Markt ist, er hat immer seine Kunst, seine Musik und seine Bestimmung. Die Frage ist aber, was mit einer Gesellschaft passiert, die aufgrund marktstrategischer Überlegungen nur noch das serviert kriegt, was geschliffen, vereinfacht und problemlos zugänglich gemacht wurde.

Ich persönlich glaube, dass der Mensch davon lebt, Neues zu entdecken, dass seine Neugier und Kreativität der Schlüssel zu seiner Weiterentwicklung sind. Ihm das vorzuenthalten ist unmenschlich! Diese ganze Popscheisse ist Crack fürs Volk.


PS: Wer wissen will, wie die junge Schweizer Musikszene wirklich klingt, hört Kanal K, Radio Rabe, 3Fach oder SRF Virus.

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