Bei diesem Thema gehen die Meinungen auseinander: Ist Psychiatrie ganz ohne Psychopharmaka möglich? Auch Fachleute sind sich nicht immer ganz einig. Der neue Film «Funktionieren» von Brigitte Zürcher (Regisseurin) hebt die Frage nun aus dem Tabubereich – und lanciert eine Diskussion. Er zeigt anhand von zwei Beispielen, wie schwierig es sein kann, psychische Erkrankungen zu behandeln. Pharma-Kritiker wie auch Befürworter kommen zu Wort.
Der Titel des Films «Funktionieren» bringt den Inhalt auf den Punkt. Einerseits geht es um die Probleme der psychisch Erkrankten. Andererseits um die möglichen Probleme bei den Heilungsversuchen: Funktioniert das, was die Psychiatrie tut, um Menschen zu helfen, überhaupt?
Entgegengesetzten Kräften ausgeliefert
Zwei Menschen und ihre Schicksale stehen bei «Funktionieren» im Fokus. Da ist einerseits Erika Badenwinkler Giacometti. Sie ist manisch-depressiv. Das heisst, dass zwei verschiedene Kräfte sie alternierend ergreifen und lenken, wie sie selber sagt.
Wenn Giacometti depressiv ist, empfindet sie grosse Angst und fühlt sich dem Druck des Alltags nicht gewachsen. In diesem Zustand kann sie die gewünschten Leistungen nicht erbringen. Das wiederum erzeugt und verstärkt Schuldgefühle. «Ich habe das Gefühl, dass ich überhaupt nichts mehr kann, und das ist auch so», sagt Giacometti im Film.
Ganz anders, wenn sie eine manische Phase hat: Dann setzt sie sich unmögliche Ziele und geht davon aus, dass sie für die Rettung der Welt verantwortlich ist.
Beide Zustände sind schwer mit der Realität in Einklang zu bringen. Aber sie bestimmen Giacomettis Verhalten. Entweder sie kommt nicht aus dem Bett raus – oder sie schafft mit ihrer impulsiven Handlungsweise Probleme für sich und andere.
Auch die Familie kann ihr nicht weiterhelfen. In keinem der Zustände. Das lässt alle Beteiligten verzweifeln. Ohne Medikamente ginge es im Fall von Frau Giacometti nicht. Das macht die Betroffene mit ihren Aussagen deutlich.
Medikamente können Fluch oder Segen sein
Der zweite Betroffene in «Funktioneren» heisst Reno Stör. Er war selbst in der Psychiatrie tätig, wurde in einer persönlichen Krise stationär aufgenommen.
Er sagt, bei ihm hätten die verschriebenen Medikamente bewirkt, dass er sich «wie ein Zombie» gefühlt habe, wie ein «Gast» in seinem Körper oder wie ein «Roboter». In Behandlung ging es ihm zunehmend schlechter statt besser.
Das Problem, so seine Analyse: Von Anfang an habe man sich nicht um die Ursache der psychischen Erkrankung gekümmert. Stattdessen sei einzig die medikamentöse Beseitigung der Symptome im Vordergrund gestanden.
Nur sieben Minuten dauerten die Visiten der diensthabenden Psychiater pro Tag. «Man ist den Ärzten unterlegen und darauf angewiesen, was die sagen», sagt Stör. Er ist nach wie vor in Behandlung. Gut geht es ihm nicht. Das wird im Film deutlich.
«Es gibt keine Garantien»
«Unsere Kultur ist eine unterdrückte. Wer innerlich nicht mehr ordnungsgemäss funktioniert, soll so schnell wie möglich wieder funktionsfähig werden – und zwar mit allen Mitteln», sagt Regisseurin Brigitte Zürcher. Sie kam bereits als Kind in Kontakt mit der Psychiatrie – über ihren Grossvater, der in der Berner Waldau arbeitete. 17 Jahre lang war sie schliesslich selbst in dem Bereich tätig.
Psychische Störungen sind sowohl für die, die sie haben, wie auch für deren Umfeld eine Belastung. Allein durch die eigene Willenskraft sind sie kaum bis gar nicht beeinflussbar. Meistens ist deshalb Hilfe von aussen nötig.
Manche Menschen brauchen medikamentöse Unterstützung. Doch nicht jedes Medikament, das gegen eine bestimmte psychische Beeinträchtigung verschrieben wird, ist für jeden mit einer entsprechenden Störung wirklich das passende. Entweder, es wirkt nicht wie erhofft, oder die Nebenwirkungen sind unerträglich.
«Die Kritik an der Psychiatrie ist zum einen Teil berechtigt, und zum anderen Teil nicht», sagt Piet Westdijk in dem Film. Der Basler Psychiater ist einer der wenigen Psychiater in der Schweiz, der sich öffentlich kritisch gegenüber Psychopharmaka äussert.
Der Einsatz von Psychopharmaka ist nicht trivial, will genau begleitet werden. In jedem Versuch, einen Patienten medikamentös zu behandeln, liege die Möglichkeit des Irrtums. Dann muss korrigiert werden. Und bei manchen wirke gar nichts. Garantien gebe es keine.
Doch vorwerfen, könne man das den Psychiatern nicht, findet Westdijk. Auch mit viel Erfahrung sei es nicht möglich, im Vorhinein genau zu wissen, wie ein Medikament bei einem Patienten wirkt. «Beim hundertsten Patienten klappt es nicht unbedingt so wie bei den letzten neunundneunzig», sagt Westdijk. Psychiater müssten sich in der Pharmakologie gut auskennen und sich ständig weiterbilden.
Mit und ohne Medikamente
«Funktionieren» will Medikamente nicht prinzipiell verteufeln. Aber deutlich machen: Medikamente allein bringens nicht. Es braucht ergänzend eine psychotherapeutische Betreuung, die den Menschen hilft, ihren Alltag besser zu bewältigen. Für Betroffene kann dies schon damit anfangen, dass sie reflektieren, wo die Realität beginnt und wo sie endet. Im Sinne von: «Was ich im Kopf habe, ist nicht unbedingt eine Beschreibung der Realität».
Als wirkungsvollste Behandlung gelten die Verhaltenstherapeutische und die kognitive Intervention. Deren Ziele: Durch Psychotherapie die Menschen zunehmend stärken, damit sie weniger Medikamente brauchen. Schwierig wird es, wenn Ärzte überfordert oder überlastet sind. Häufig werden Medikamente auch einfach von Hausärzten verschrieben. «Sie sind keine Fachärzte und wissen oft nicht genug», sagt Westdijk.
«Funktionieren» ist letztlich ein Plädoyer für eine Psychiatrie, die die Patienten ernst nimmt und ihnen zuhört. Und eine, die sich nicht darauf beschränkt, einfach nur Medikamente zu verschreiben. Denn Probleme lassen sich selten bis nie nur mit Pillen lösen.
«Funktionieren» kommt am 10. März ins Kultkino Atelier. Der Eintritt ist frei und die Regisseurin und der Basler Psychiater Piet Westdijk sind für eine Diskussion nach der Vorführung anwesend. Der Film wurde per Crowdfunding finanziert und bereits in Deutschland, Österreich und in Bern vorgeführt.