Die politische Linke steckt in einer Sinnkrise. In den USA haben Stahlarbeiter im Rust Belt den Erzkapitalisten Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt. In Frankreich wählen Arbeiter mehrheitlich den rechtsextremen Front National von Marine Le Pen. Und in Deutschland hat die SPD in einigen Städten wie etwa Mannheim, in denen die AfD bei der Landtagswahl ein Direktmandat gewann, ihre Wählerklientel an die Rechtspopulisten verloren.
Wie kann sich die teils verknöcherte Linke, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ideologische Rückzugsgefechte führt, reformieren? Braucht sie vielleicht ein neues Narrativ?
Das progressive französische Magazin «L’Obs» hat kürzlich 25 Ideen zur «Aufweckung der Linken» vorgelegt. Darunter figurieren so innovative Vorschläge wie der Wohnungsbau mit den Reserven der Rentenfonds, ein bedingungsloses Grundeinkommen, ein «Mindesterbe» (eine Idee des kürzlich verstorbenen Ungleichheitsforschers Anthony Atkinson) sowie die Herausgabe unserer Daten.
Öffentliches Gut in der Hand von Konzernen
Letzteres ist der wohl interessanteste Vorschlag. «Fünf US-Konzerne», heisst es in dem programmatischen Entwurf, «namentlich Google, Amazon, Facebook, Apple und IBM, besitzen beinahe die Gesamtheit unserer Daten und Spuren, die wir im Netz hinterlassen. Unsere Daten nähren das Know-how über künstliche Intelligenz, die diese Gesellschaften entwickeln, und sie lassen uns zahlen, wenn wir diese nutzen.»
Der Internetkritiker Evgeny Morozov beschreibt die Nutzungsverhältnisse im World Wide Web folgendermassen: Es ist, als ob die gesamte Landmasse des Planeten plötzlich fünf grossen Banken oder Immobilienfirmen gehören würde und jeder Mensch eine Gebühr bezahlen müsste, wenn sein Fuss die Erde berührt.
Wir sind nicht nur Kunden, sondern auch Produkte, die an Dritte verkauft werden.
Egal, ob der Uber-Fahrer durch Manhattan fährt oder der Facebook-Nutzer durch seinen Newsfeed klickt – überall werden Daten produziert, die von Unternehmen monetarisiert werden, ohne dass der Nutzer davon profitiert. Wir sind nicht nur Kunden, sondern auch Produkte, die an Dritte verkauft werden.
Eigentlich sollte man ja meinen, dass man mit der Generierung von Daten deren Eigentümer oder zumindest deren Anteilseigner wird. Doch sobald wir die Allgemeinen Geschäftsbedingungen akzeptieren, entäussern wir uns jedweder Beteiligung. Es ist ein Total-Buy-out.
Digitale Feudalwirtschaft
Die Ökonomin Shoshana Zuboff argumentiert, dass wir uns von einem fordistischen Zeitalter in ein googlistisches Zeitalter bewegen. Im Fordismus hätten Autobauer billige Einzelteile zusammengeschraubt und in Serie Fahrzeuge produziert. Im Googlismus würden Internetkonzerne personenbezogene Daten zusammenpacken, Informationen extrahieren und diese in Paketen an Anzeigenkunden verkaufen.
«Im Überwachungskapitalismus», sagte Zuboff dem «Harvard Magazine», «werden ohne unser Wissen, Verständnis oder Einverständnis Rechte von uns genommen und dazu genutzt, Produkte zu kreieren, die dazu entwickelt sind, unser Verhalten vorherzusagen.» Digitale Identitäten werden kommerzialisiert und ausgeschlachtet.
Morozov erblickt in diesen einseitigen Geschäftsmodellen einen Neo-Feudalismus, in dem der Lehnsmann seinen Lehnsherrn, in diesem Fall den Tech-Konzernen, für die Nutzung der Dienste mit seinen Daten bezahlen müsse.
Der Oxforder Informationsphilosoph Luciano Floridi sieht Europa als «digitale Provinz des kalifornischen Empires». Im Gespräch mit der TagesWoche sagt er: «Uns wird zwar das Recht auf volle Bürgerschaft in der Informationsgesellschaft gewährt, aber die Macht, die unsere digitalen Identitäten verändert, residiert im Silicon Valley.»
Rückeroberung des virtuellen Raums
Für die Linke, deren Gründungsmythos und Selbstverständnis darauf beruht, den Arbeiter aus der Knechtschaft der Produktionsmittelbesitzer zu befreien, wäre das Motto «Reclaim your Data» (etwa: Erobert die Hoheit über Eure Daten zurück) ein Vehikel, ihrem Anspruch einer Interessenvertretung der Entrechteten gerecht zu werden. Es geht dabei auch analog zur Rückeroberung des öffentlichen Raums («Reclaim the City») um die Rückeroberung des virtuellen Raums, der sich von der anfänglichen Idee einer gemeinschaftlichen Güternutzung zunehmend in eine Gated Community verwandelt hat, in der Autoritäre und private Konzerne das Sagen haben.
Könnte die Rückerlangung der Daten nicht zum Leitmotiv linker Politik im Informationskapitalismus avancieren?
Morozov plädierte in einem Beitrag für den «Guardian», der auch in der «Süddeutschen Zeitung» abgedruckt wurde, für einen «linken Datenpopulismus». Die Linke hätte in den digitalen Debatten die Chance, sich als relevante Stimme zu profilieren. «Eine viel bessere Agenda für linke Populisten wäre, darauf zu bestehen, dass Daten entscheidender Bestandteil einer Infrastruktur sind, die allen gehören sollte», schreibt Morozov. Er hat nichts dagegen, dass Firmen ihre Dienste auf unseren Daten aufbauen, «aber nur, wenn sie dafür auch bezahlt haben». Weiter fordert er:
«Daten und Künstliche Intelligenz (KI), die auf ihnen aufbaut, müssen öffentlicher Besitz bleiben. Nur so können Bürger und öffentliche Einrichtungen sichergehen, dass Firmen sie nicht mit Kosten für Dienste erpressen, die ja letztlich die Öffentlichkeit selbst geschaffen hat. Statt Amazon für die KI-Dienste zu bezahlen, die mit unser aller Daten konstruiert wurden, sollte Amazon verpflichtet werden, diese Gebühr an uns zu entrichten.»
Geld gegen Daten oder Gebühr für Privatsphäre?
Dem liegt ein klassischer Umverteilungsgedanke zugrunde. Die Daten, auf denen die gigantische Marktkapitalisierung der Internetkonzerne gründet, müssen abgeschöpft und der Allgemeinheit in Form einer Ausschüttung oder eines Lohns zugeführt werden. Morozovs Vorschlag gründet auf der Einsicht, dass der Übermacht der Tech-Giganten weder mit einer Zerschlagung (man müsste vorher freilich fragen, ob die Informationsbanken systemrelevant, gewissermassen too big to fail sind) noch mit genossenschaftlichen Modellen wie etwa der kollaborativen App Uber Drivers Network, beizukommen ist.
Ob die Antwort auf den rechten Datenpopulismus ein linker Datenpopulismus sein kann, der die Massen gegen Facebook aufgewiegelt, darf bezweifelt werden.
Die Idee ist nicht ganz neu. Die Bewegung «Wages for Facebook» forderte bereits 2014, dass das soziale Netzwerk seinen Nutzern einen Lohn für die Überlassung ihrer Daten auszahlen solle. Auch der Rechtswissenschaftler Tim Wu plädierte in einem Beitrag für den «New Yorker» dafür, dass Facebook seine Nutzer bezahlen solle. Das soziale Netzwerk sei in Wirklichkeit ein Arbitragesystem; der Wert, der sich aus den Daten schöpfen liesse, stehe in keinem Verhältnis zum Nutzen des sozialen Austauschs.
Die Technik-Soziologin Zeynep Tufekci tritt für ein umgekehrtes Modell ein und schlägt eine Cash-Option für Facebook vor: Der Nutzer bezahlt für mehr Privatsphäre. Doch die Mehrheit der Nutzer begegnet Privatsphäre-Bedenken mit dem ewiggestrigen Biedersinn-Argument «Ich habe nichts zu verbergen.» Ob sie bereit wäre, für ein paar Katzenvideos und Konversationen zu bezahlen, wenn es andere Gratis-Dienste gibt, ist fraglich.
Und ob die Antwort auf den rechten Datenpopulismus, den Donald Trump faktisch schon betreibt, ein linker Datenpopulismus sein kann, der die Massen gegen Facebook aufgewiegelt, darf bezweifelt werden.
Das Problem: Die Linke steht selbst zur Disposition
Die Digitalisierung ist eigentlich ein historischer Moment für die Linke. Arbeiter werden durch Roboter ersetzt, «alles Ständische und Stehende verdampft» (Marx), der Mensch wird zum Rohstofflieferant für eine gigantische Maschinerie, die aus Datenprofilen Mehrwert generiert. Doch die Frage, wie Automatisierungsgewinne verteilt werden, wem die Roboter gehören sollen, wurde im öffentlichen Raum bislang kaum verhandelt. Und abgesehen von den Utopisten der Bewegung «Fully Automated Luxury Communism», die sich eine Welt erträumt, in der Maschinen unseren Wohlstand erwirtschaften, auch noch nicht in einen linken Diskurs überführt.
Wer braucht noch Anwälte der Arbeit, wenn es kaum noch Arbeit gibt?
Das Feld der Digitalisierung wird lediglich von einer recht übersichtlichen Truppe Netzaktivisten verschiedener Couleur bestellt. Das Problem ist, dass die Linke durch die Digitalisierung selbst zur Disposition steht. Die industrielle Reservearmee, auf welche die Produktionsmittelbesitzer in der ersten industriellen Revolution angewiesen waren und die als Druckmittel der Gewerkschaft eingesetzt werden konnte, wird durch die Automatisierung überflüssig. Wer braucht noch Anwälte der Arbeit, wenn es kaum noch Arbeit gibt?
Der italienische Publizist Giorgio Griziotti beschreibt in seinem neuen, demnächst auch auf Englisch erscheinenden Buch «Neurocapitalismo», wie wir nach der industriellen Revolution in die Phase des «kognitiven und biokognitiven Kapitalismus» eintreten. Kennzeichen dieses Kapitalismus sei, dass nicht mehr Fabriken die Produktionsstätten sind, und auch nicht die Büros des Dienstleistungssektors, sondern der menschliche Körper und das Gehirn.
Diese neuen Produktionsstätten lassen sich nicht mit einem Maschinensturm 2.0 einnehmen oder blockieren, weil sie selbst schon von den Internetkonzernen in Besitz genommen wurden: Der Überwachungskapitalismus ist eine Welt des In-den-Kopf-Eindringens geworden.
Datensouveränität zurückgewinnen
Es scheint ein Triumph des Neoliberalismus zu sein, dass der Mensch immer mehr wie eine Maschine operiert, dass er sich einredet, «funktionieren» zu müssen, dass er zunächst unter Dampf, dann unter Strom stand und sich nun als fortschrittmattes Wesen nach einem «Reset» sehnt und für die Arbeitslosigkeit nicht den Markt oder die Politik, sondern seine mangelnde Fitness verantwortlich macht. Man protestiert nicht, sondern feilt an seinem Fitnessplan.
Die Schaffung einer genossenschaftlich organisierten Cloud wäre ein Programm, der Dominanz der Tech-Konzerne etwas entgegenzusetzen.
Wenn die Arbeit an der Selbstoptimierung selbst zur Arbeit geworden ist, wenn aus Daten Arbeit wird, dann muss die Linke, die sich als Anwalt der Arbeit versteht, auch zum Anwalt der Daten werden. Vorstellbar wäre etwa die Schaffung einer genossenschaftlich organisierten Cloud, in der unsere Daten treuhänderisch verwaltet werden. Das ist zwar eine Utopie, aber gleichsam ein Programm, der Dominanz der Tech-Konzerne etwas entgegenzusetzen.
Gewiss, die Zeit der «grossen Erzählungen» ist seit Jean-François Lyotard und der Postmoderne vorbei. Und doch: Die Linke braucht ein neues Narrativ. Die (System)-Kritik an den Finanzmärkten und Austeritätspolitikern reicht nicht mehr, es bedarf einer wirkmächtigen Erzählung, wie das Individuum, das im Internet der Dinge nur eine Maschine unter vielen ist und schon heute in Amazons Logistikzentren wie ein Roboter mechanisch Skripte abarbeitet, seine (Daten-)Souveränität zurückgewinnen kann.
Es geht schliesslich darum, dass man die algorithmischen Befehlsketten sprengt, dass die neuen Autoritäten wie Google und Facebook uns nicht mehr diktieren, was sagbar und was schicklich ist. Nachdem Ubers Algorithmen die Fahrtarife am New Yorker Flughafen John F. Kennedy infolge der chaotischen Zustände durch Trumps Einreiseverbot für Muslime erhöhten, formierte sich auf Twitter unter dem Hashtag «DeleteUber» ein Protest, der zwar eher destruktiv und als Anti-Trump-Massnahme motiviert war, aber doch Tausende Leute mobilisierte.
Die emanzipatorischen Möglichkeiten waren noch nie so gross im Zeitalter des Internets. Datenmündel aller Welt, vereinigt Euch!