Renten: Keine Panik, bitte!

Obwohl die finanzielle Situation vieler Pensionskassen alles andere als rosig ist, sind voreilige Untergangsszenarien fehl am Platz: Das Vorsorgesystem der Schweiz zählt nach wie vor zu den besten weltweit.

Obwohl die finanzielle Situation vieler Pensionskassen alles andere als rosig ist, sind voreilige Untergangsszenarien fehl am Platz: Das Vorsorgesystem der Schweiz zählt nach wie vor zu den besten weltweit.

Mit 67 veranschlagte alt Bundesrat Pascal Couchepin das künftige ordentliche Pensionsalter – wenn man den Zusammenbruch der schweizerischen Altersvorsorge verhindern wolle. Nur zwei Jahre nach seinem Rücktritt aus der Landesregierung sind wir schon drei Jahre weiter. Nun fordert Rolf Dörig, der Präsident des Versicherungskonzerns Swiss Life, die Schweizer müssten bis 70 arbeiten – sonst drohten griechische Verhältnisse.

Griechische Verhältnisse? Aber gern, aber bitte gleich. In Griechenland liegt das gesetzliche Pensionierungsalter näm­lich bei 58 Jahren. Auch wenn die Griechen, weil sie vernünftiger sind als ihr Gesetzgeber, in der Praxis deutlich länger arbeiten: die Männer im Schnitt nur 2,8 Jahre weniger lang als die Schweizer Männer.

Man könnte Herrn Dörig auch fragen, wie viele Arbeitsplätze denn Swiss Life für 65- bis 70-Jährige bereitstellen würde. In den letzten Jahren hatte man in vielen Branchen eher den Eindruck, Mitarbeiter seien ab etwa Mitte 50 unerwünscht. Otto Ineichen lanciert derzeit eine lobenswerte Aktion, um 10 000 über 50-jährige Arbeitslose umzuschulen und wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Woher man unter diesen Umständen die Arbeitsplätze für alle 65- bis 70-Jährigen nehmen will, erscheint ziemlich schleierhaft. Vor allem hiesse es dann wieder, die ­Alten blockierten die Arbeitsplätze der Jungen. Nur Verwaltungsratspräsidenten arbeiten heute in vielen Unternehmen bereits bis Alter 70 – der Job verschleisst ja auch nicht so sehr.

Ältere schlafen ruhig

Jenseits der sozialpolitischen Kampf­ansage von Arbeitgebern und Versicherern und jenseits der sarkastischen Reaktionen auf deren Zumutungen wäre eine Diskussion über die finanzielle Zukunft der Pensionskassen und aller anderen Sozialversicherungen durchaus angebracht. Denn die finanzielle Lage der Pensionskassen ist gegenwärtig alles andere als rosig. Das lässt sich aus den Untersuchungen von Swiss­canto über den Deckungsgrad schweizerischer Pensionskassen schliessen. Der Deckungsgrad misst die Fähigkeit der Pensionskassen, allen ihren Verpflichtungen gegenüber den Versicherten jederzeit nachzukommen. Insgesamt beläuft er sich im Durchschnitt aller Pensionskassen derzeit auf 94,7 Prozent – 100,3 Prozent bei den privatrechtlichen, 88,2 Prozent bei den öffentlich-rechtlichen Pensionskassen.

Die Durchschnittswerte sehen besser aus als die Realität. Ausreichend gedeckt (inklusive genügend Reserven für Anlagerisiken) sind derzeit nämlich nur magere 15,2 Prozent der privaten und erbärmliche 1,9 Prozent der öffentlich-rechtlichen Kassen. Es ist damit zu rechnen, dass die Deckungs­grade bis zur nächsten Erhebung – ­deren Ergebnisse Mitte Januar vorliegen dürften – nochmals zurückgehen. Denn die Rendite auf dem Vermögen der Pensionskassen bewegt sich im negativen Bereich: Zwischen Januar und Ende September 2011 wurde eine «Rendite» von minus 2,1 Prozent erzielt.

Für die Versicherten ist das alles andere als vergnüglich – aber in sehr unterschiedlichem Masse. Für jene Versicherten, die ihre Pension bereits beziehen, bedeutet die schlechte finanzielle Lage zumindest kurzfristig recht wenig. Sie beziehen ab dem Pensionierungsdatum eine Rente, die sich aus dem bis dahin angesparten Alterskapital und dem zu diesem Zeitpunkt geltenden Umwandlungssatz errechnet; dieser betrug lange Zeit 7,2 Prozent (pro 100 000 Franken Alterskapital wird eine jähr­liche Rente von 7200 Franken ausgeschüttet) und wird sich bis 2014 auf 6,8 Prozent reduzieren. Die Reduktion auf 6,4 Prozent wurde im 2010 von den Stimmbürgern deutlich abgelehnt. Die einmal errechnete und ausgezahlte Rente bleibt für den Rest des Lebens im Prinzip unverändert.

Politisch festgelegter Zinssatz

Der Umwandlungssatz ist eine politisch ausgehandelte Grösse. Auch das erreichbare Alterskapital unterliegt allerlei politischen Zugriffsmöglichkeiten. Am wesentlichsten ist die Fest­legung des Mindestzinssatzes für Altersguthaben – den hat der Bundesrat kürzlich von 2,5 auf 2,25 Prozent reduziert. Bei einer durchschnittlichen Vermögensrendite von minus 2,1 Prozent müssen die Pen­sionskassen das Alterskapital ihrer Versicherten mit 2,25 Prozent verzinsen – ein überaus schlechtes Geschäft.

Andererseits muss die Verzinsung des Altersguthabens hoch genug sein, damit am Ende des Erwerbslebens genug davon vorhanden ist, um eine angemessene Rente zahlen zu können. Das politisch definierte Ziel ist es, dass Normalverdiener mit ihrer AHV- und Pensionskassenrente den gewohnten Lebensstil fortsetzen können – was, so der Konsens, im Alter mit etwa 60 Prozent des vorherigen Einkommens möglich sein sollte. Bei der Einführung des Vorsorge-Obligatoriums in den 1980er-Jahren gingen die Anlageexperten davon aus, dass dies mit einem Zinssatz von vier bis fünf Prozent erreichbar sei. Mit 2,25 Prozent Zins ist es nur dann möglich, wenn die Prämienzahlungen erhöht werden – das wollen aber weder Arbeitnehmer noch Arbeitgeber.

Für die heutigen Jungrentner ist die Rechnung aufgegangen. Während ihres PK-relevanten Arbeitslebens (Beispiel 1970 bis 2010) herrschte in der Regel Vollbeschäftigung, die Wirtschaft verzeichnete stetiges Wachstum, die Löhne stiegen, Vermögensanlagen rentierten über lange Sicht mit rund fünf Prozent, manchmal auch mehr.

Bis zum Pensionierungszeitpunkt konnte sich also reichlich Alterskapital ansammeln – und der Umwandlungssatz lag immer noch bei satten sieben Prozent. Auf die Rente können sie sich für den Rest ihres statistisch noch etwa 17 Jahre währenden Lebens im Prinzip verlassen. Das grösste Risiko besteht in der Entwertung durch eine lang anhaltende Teuerung.

Für die heute aktiv im Erwerbs­leben stehenden Jüngeren sind die Aussichten trüber. Das Wachstum wird wohl schwächer, in immer kürzeren Abständen platzende Spekulationsblasen beeinträchtigen die Anlageerträge, Lohnerhöhungen fallen eher bescheiden aus – kurz: die Äufnung eines Alterskapitals, das den erklärten sozialpolitischen Zielen der Gesellschaft entspricht, wird immer schwieriger.

Zu optimistische Erwartungen

Zudem werden die aktiven Versicherten die zu optimistischen Erwar­tungen der Gründerväter der Pensions­kas­sen ausbaden müssen. Den Ren­­ten­berech­nungen liegen nämlich ebenfalls langfristige Prognosen zugrunde – zum ­einen die Lebenserwartung, die heute deutlich höher liegt als zu Beginn der Pensionskassenpolitik, zum anderen die Rendite-Erwartungen. Aus der Kombination dieser beiden Erwartungen errechnet sich der Umwandlungssatz. Nun liegt die Zinserwartung bei vier Prozent (das ist der «technische Zinssatz», nicht zu verwechseln mit dem flexiblen Mindestzinssatz), also deutlich höher als das, was im letzten Jahrzehnt erzielt werden konnte. Zu tiefe Erträge und höhere Lebenserwartung bei gleich bleibender Rente führen dazu, dass das angesparte Alterskapital im Durchschnitt nicht für das ganze Leben reicht. Da es die Pensionskassen aber garantiert haben, muss jemand den entstehenden Schaden schultern. Und das sind bisher eben die aktiven Erwerbstätigen, die ihre untergedeckten Pensionskassen mit «Sanierungsbeiträgen» aufpäppeln müssen – und dafür länger arbeiten dürfen als vorgesehen.

Bei allen negativen Aspekten der aktuellen Bestandesaufnahme bleibt aber eine tröstliche Tatsache: In der beruflichen Vorsorge haben wir es mit einem Zeitraum von 40 Jahren, in denen eingezahlt wird, und gegen 20 Jahren, in denen konsumiert wird, zu tun. Der Horizont umfasst also 60 Jahre. Für einen solchen Zeitraum Prognosen abzugeben, die Rendite von Anlagen abzuschätzen, ja sogar die Entwicklung der Lebenserwartung vorherzusagen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Im letzten Jahrhundert hat es die Menschheit geschafft, in nur 30 Jahren zwei Weltkriege, die Oktoberrevolution und die Grosse Depression zu bewältigen; und in den 60 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sind wir zum Mond geflogen, haben den Computer und das Internet erfunden, das Auto zum Massenverkehrsmittel und Fliegen alltäglich gemacht. Mit anderen Worten: Wer behauptet, er wisse, mit welchen Massnahmen man die Stabilität der beruflichen Vorsorge für heutige Berufseinsteiger endgültig sichern könne, ist entweder dumm oder ein Scharlatan. Genauso wenig kann man aus den heutigen Engpässen schliessen, dass die Altersvorsorge langfristig – und das heisst in 40 Jahren – nicht finanzierbar sei.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09/12/11

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