Russlands Muttermal – das Erbe der Oktoberrevolution

1927 wurde das Zehn-Jahr-Jubiläum in der Sowjetunion pompös inszeniert. Heute hält Putin den Ball lieber flach. Eine kurze Geschichte des Umgangs mit der Revolution von 1917.

Schauspieler und Pappkamerad: Wenn sich Touristen mit Stalin- und Lenin-Darstellern ablichten lassen, bleibt Putin im Hintergrund. (Bild: Getty Images)

Zurzeit wird der Russischen Revolution gedacht. Im Westen mehr als in Russland selber. Putin mag die Revolution nicht. Ihr Geist könnte ihm gefährlich werden. Er sieht aber auch darum keinen Grund, das Revolutionsregime zu feiern, weil es sich mit dem Feind (dem wilhelminischen Deutschland) arrangiert, weil es ein Drittel seines europäischen Territoriums preisgegeben und einzelnen «Nationen» des russischen Imperiums ein Austrittsrecht eingeräumt hat.

Jubiläen benötigen in der Regel einen genauen Zeitpunkt. Das ist auch bei der derzeit gefeierten Reformation so: Da macht man das Jubiläum am 31. Oktober 1517 fest, dem Tag, an dem Luther seine 95 Thesen an der Schlosskirche von Wittenberg angeschlagen haben soll. Ein exaktes Datum also. Wenn der Gedenkwille gross ist, darf ein Jubiläum aber auch ein ganzes Jahr dauern.

Die Sowjetunion entstand nicht über Nacht, sondern in einem Prozess, dem über acht Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Das Revolutionsgedenken müsste sich auf die Nacht des 24./25. Okt. östlicher oder des  6./7. November 1917 westlicher Zeitrechnung beziehen, den Sturm auf das Winterpalais des bereits abgesetzten Zaren. Das war eine Kleinaktion, die in keinem Verhältnis zur grossen Bedeutung stand, die man ihr später zusprach. 1927 – zum Zehn-Jahr-Jubiläum – präsentierte Sergei Eisenstein im Film «Oktober» die Eroberung der Macht als aufgeblasene Grossaktion. Bei der Beseitigung der bürgerlichen Regierung kamen wesentlich weniger Menschen um als in den nachfolgenden innerrevolutionären Auseinandersetzungen.

Die Oktoberrevolution von 1917 war die dritte, aber anderer Art als ihre Vorgängerinnen. Voraus gingen die Revolutionen von 1905 und vom Februar 1917. Die Sowjetunion, die aus ihr hervorging, wurde erst 1922 geschaffen. Dies sei nicht aus Besser- oder Mehrwisserei in Erinnerung gerufen. «1905» erinnert daran, dass nicht ernst genommene Revolten grössere Konsequenzen nach sich ziehen können. Und «1922» erinnert daran, dass die Sowjetunion nicht über Nacht, sondern in einem langen Prozess entstand, dem über acht Millionen Menschen durch breite, nicht auf die Bolschewiki beschränkte Täterschaften zum Opfer fielen.

Die Russische Revolution wird in der Regel und zu Recht mit Lenin in Verbindung gebracht, der im April 1917 aus dem Schweizer Exil ins bereits revolutionär gestimmte Russland reiste und sich nach der Nacht vom 6./7. November schon bald «aus dem Keller» an die Macht befördert sah – als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare.

Stalin oder Trotzki – Lenin hatte gegen beide potenziellen Nachfolger Vorbehalte.

Lenin spielte im weiteren Verlauf der Entwicklung als begnadeter Agitator und Organisator eine zentrale Rolle. Er hatte aber, abgesehen von der Enteignung der Grossgrundbesitzer und dem allgemeinen Industrialisierungsprogramm keine ausgearbeiteten Vorstellungen vom Weg in «die Höhe der Zivilisation». Zudem war er in den letzten Jahren vor seinem Tod von 1924 wegen eines 1918 erlittenen Attentats zunehmend geschwächt.

Bereits zu Lebzeiten zeigten sich erste Ansätze zu einem Personenkult. Als sich 1924 die Frage stellte, wie man dem grossen Revolutionär ein ewiges Gedenken sichern soll, wurde unter anderem vorgeschlagen, im Hafen von St. Petersburg ein monumentales Standbild seiner Person nach dem Vorbild der New Yorker Freiheitsstatue zu schaffen, in der Stadt also, die fünf Tage nach dem Tod des Revolutionshelden in Leningrad umbenannt wurde. Eine Änderung, die bis 1991 hielt und dann wieder dem alten Namen weichen musste.

Lenin wusste von seinem absehbaren Ende und überlegte sich, wer sein Nachfolger werden sollte. Die Alternative lautete Stalin oder Trotzki, doch gegen beide hatte er ernste Vorbehalte. Das Rennen machte Genosse Stalin, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Ihm gelang es, Apparat und Macht an sich zu reissen und ab 1927 als uneingeschränkter Alleinherrscher der Sowjetunion zu wirken.

Wir können eine Kontinuität beobachten, von Zar Iwan dem Schrecklichen über Lenin/Trotzki/Stalin zu Putin.

Stalins Regime war gekennzeichnet von rücksichtsloser Verfolgung tatsächlicher oder nur vermuteter Gegner. Es ist als «Grosser Terror» in die Geschichte eingegangen. Aus diesen Verbrechen ragt – wegen der entsprechenden Erinnerungsbemühungen der Nachgeborenen – der Holodomor heraus: die in der Ukraine herbeigeführte Hungersnot, die zwischen 1932 und 1934 Millionen von Menschen das Leben kostete.

War mit der Revolution von 1917 der Weg zu Stalin programmiert oder war dieser bereits schon im vorausgegangenen Zarentum angelegt? Es gibt die Meinung, dass Trotzki die bessere Alternative zu Stalin gewesen wäre. Rücksichtslose Repression gehörte allerdings auch zu Trotzkis Regierungsverständnis, wie etwa die Massenerschiessungen nach dem Aufstand der Kronstädter Matrosen von 1921 zeigen.

Wir können eine gewisse kulturelle Kontinuität beobachten, von Zar Iwan dem Schrecklichen über Lenin/Trotzki/Stalin und abgeschwächt und modernisiert zu Putin. Diese ist jedenfalls nicht kleiner als die für Deutschland «von Bismarck zu Hitler» herbeigeredete. Gegenüber Verständnissen, die von programmierenden Erblasten ausgehen, ist aber Vorsicht am Platz.

In Stalin wird vor allem der Mann verehrt, der NS-Deutschland besiegt hat.

Putin mag die kritische Auseinandersetzung mit Stalin nicht und lehnt sie als eine «unnötige Dämonisierung» ab. Damit wolle man nur Russland attackieren und zeigen, dass es «das Muttermal des Stalinismus» trage. Die mit der gewachsenen Wertschätzung Stalins verbundene Nostalgie ist Putin hingegen willkommen. Er meint sie nutzen zu können, ohne damit den Stalinismus selber zu fördern. In Stalin wird vor allem der Mann verehrt, der NS-Deutschland besiegt hat. Der 9. Mai 1945 ist in Russland inzwischen wichtiger als der Revolutionstag am 7. November 1917.

Wie Umfragen zeigen, ist die Anerkennung Stalins heute grösser als bloss ein punktuelles Muttermal, nämlich eine breit angelegte Tendenz. Stalin erfreut sich wachsender Popularität. Hatten 2012 nur 28 Prozent eine positive Meinung von diesem «Vater der Nation», sind es jetzt 46 Prozent. Die Anteile derjenigen, welche die Massenmorde der Stalin-Ära als ein unentschuldbares Verbrechen betrachten, ist in den letzten zehn Jahren dagegen von 72 auf 39 Prozent drastisch gesunken.

25 Prozent halten Stalins Terror für eine «historische Notwendigkeit». Würde in Deutschland ein analoges Verständnis für Hitler und seine Verbrechen bekundet, man wäre weltweit entsetzt. Relativierend kann man freilich sagen, dass die Leute damit nur Stalins effektive Führung, Korruptionsbekämpfung und sozialstaatliche Programme meinen und nicht Repression und Deportation gutheissen. Auch dazu gibt es eine deutsche Analogie: die mindestens partielle Würdigung Hitlers, weil er Autobahnen bauen liess und die Arbeitslosigkeit beseitigt hat.

Von Lenin heisst es, er habe in der Schweiz den idealen Ausgangsort für die weltweite Revolution gesehen.

Die russischen Revolutionäre von 1917 wollten auch in der Aussenpolitik eine neue Ära einleiten. Sie rechneten damit, dass die traditionelle Staatenwelt schon bald zusammenbrechen und ein russisches Aussenministerium überflüssig werde. Trotzki war der Meinung, dass man nach der Verabschiedung von ein paar  weltrevolutionären Dekreten «die Bude» zumachen könne. Russland sollte immerhin der Ausgangspunkt der Weltrevolution sein. Mit der 1919 geschaffenen Kommunistischen Internationalen (Komintern) stand dem revolutionären Regime ein Instrument der Auslandagitation zur Verfügung, mit dem es im Ausland subversiv tätig sein konnte.

Von Lenin heisst es übrigens, dass er in der Schweiz wegen ihrer zentralen Lage und der Zugehörigkeit zu verschiedenen Sprachräumen den idealen Ausgangsort für die weltweite Revolution gesehen habe. Darum wurde, wenn auch fälschlicherweise, der schweizerische Landesstreik als Teil der angestrebten Weltrevolution verstanden.

Abgesehen davon, dass die Weltrevolution ein weltfremder Traum war, sorgte Stalin dafür, dass die Kräfte zunächst ganz für den Aufbau des revolutionären Staatssozialismus «im einen Land» eingesetzt wurden. Es blieb die Frage, ob und inwieweit Russland weiterhin ein ordentliches Mitglied im Konzert der Mächte sei.

Die Sowjetunion wie das postsowjetische Russland sind gewöhnliche Teile des Staatensystems geworden.

Im Westen war man bestrebt, den Revolutionsherd, wenn man ihn schon nicht löschen könne, wenigstens eng einzugrenzen. Churchill war der Meinung, man müsse das sowjetische Baby wenn möglich bereits in seinem Korb ersticken. Trotzdem taktierte und kooperierte er später mit Stalin während des Zweiten Weltkriegs und anlässlich der Konferenz von Jalta im Februar 1945 bei der Aufteilung Europas.

Die Sowjetunion wie das postsowjetische Russland sind gewöhnliche Teile des Staatensystems geworden. 1945 gelang mit dem UNO-Projekt die formelle Einbindung. Die Bekämpfung des Westens wie umgekehrt der westliche Kampf gegen den Osten in der Ära des Kalten Kriegs bewegten sich abgesehen von einigen doch recht heissen Phasen im Rahmen der üblichen Staatenbeziehungen und, unabhängig von der inneren Qualität der Regime, in mehr oder weniger «friedlicher Koexistenz».

Die von Putins Russland heute in starkem Mass betriebenen Cyber-Attacken gegen den Westen werfen jedoch die Frage auf, ob dies eine die alte Subversion betreibende Fortsetzung des revolutionären Kampfes mit anderen Mitteln und neuen Zielen ist.

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