Schiefer, Schlamm und Schweineblut in Cardiff

Die Hauptstadt von Wales hat sich am eigenen Schopf aus dem Schlamm gezogen: Wo einst Kohle verschifft wurde, erwachen die Strassen um die ehemalige Tiger Bay zu neuem Leben. 

Am Hafen, wo vor hundert Jahren Ruhe einzog, tobt heute wieder das Leben. (Bild: Alexander Marzahn)

Cardiffs Vergangenheit ist schwarz. Einst der weltweit grösste Umschlagplatz für Kohle, verwandelte sich das multikulturelle Hafenquartier Tiger Bay nach 1920 in einen elenden Slum: Die Docks zerfielen, die Piers verschlammten, Arbeiter, Matrosen und Prostituierte wurden arbeitslos. «Der Hafen hat Cardiff den Wohlstand gebracht, doch die Stadt hat ihn enterbt», klagten die Bewohner.

Auf der anderen Seite der Wohlstandsskala: die Adelsfamilie Bute. Ihr gehörten Minen, Eisenbahnen, der Hafen, ja die halbe Stadt – inklusive des geschichtsträchtigen Cardiff Castle im Zentrum. Es zeigt einen irren Stilmix aus römischem Kastell, normannischer Festung und neugotischem Märchenschloss. Man steigt hoch in fürstliche Gemächer und hinab ins dicke Mauerwerk, wo die Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg Schutz vor deutschen Bomben suchte. Die dröhnende Geräuschkulisse ab Band begleitet durch die düsteren Gänge – kein schönes, aber ein eindrückliches Erlebnis.

Eigentlich sind wir nur auf Durchreise, wie viele Touristen, die es nach Wales zieht, doch Cardiff ist eine eigene Reise wert. In der Fussgängerzone öffnen sich prächtige Einkaufspassagen, wo Traditionsgeschäfte für Brautmode, Hüte oder Massanzüge eingemietet sind, aber auch junge Start-ups wie Science Cream. In diesem Eiscafé-Labor wird die süsse Masse spektakulär mittels Flüssigstickstoff schockgefroren.

Das Frühstück? Very british

Gegenüber bietet The Potted Pig in einem stilvollen Backsteingewölbe gehobene Küche – zumindest am Abend. Das Frühstück mit Baked Beans, Leber und Black Pudding (ein schwabbeliges Etwas aus Schweineblut, das mit unserer Blutwurst verwandt ist) kommt für Kontinentaleuropäer einer Grenzerfahrung gleich.

Doch zurück zum Hafen, einem Musterbeispiel städtischer Aufwertung. Der Bau eines Damms, der verhindert, dass bei Ebbe die ganze Bucht zur Schlammwüste wird, hat 1999 die Wende gebracht. Im Jahr 2006 verlegte das walisische Parlament seinen Sitz hierher und heute locken schicke Bars, Geschäfte und Hotels.

Das neue Wahrzeichen ist jedoch die bronzene Fassade des Millennium Centre. Das nationale Kulturzentrum, wo die Oper untergebracht ist und auch immer wieder mal das BBC-Orchester spielt, wurde 2009 aus heimischem Schiefer errichtet. Das Gestein war für Wales einst so wichtig wie die Kohle, und wer die Minen in Nordwales besucht, erhält eine Idee von den unglaublichen Strapazen der Bergleute, deren Lohn so tief war wie ihre Lebenserwartung.

Im Cardiff Castle sind Stile aus vielen Jahrhunderten verbaut. Über dem Turm weht der walisische Drache.

Einmal zu Ed Sheeran für den Lebenslohn eines Minenarbeiters

Auch die Wurzeln der walisischen Volksmusik, die abends in den Pubs von Cardiff erklingt, liegen buchstäblich im Dunkeln: Viele der traurig-schönen Melodien wurden in den gefährlichen Minen geboren.

Dem feuchtkalten Wetter zum Trotz ist Cardiff auch eine Stadt des Sports: Rund um den Bute Park haben sich – ganz in Weiss – die Cricket-Freunde breitgemacht, daneben streckt das brandneue Millenium-Stadium selbstbewusst seine Stahlträger in den Himmel. Es bietet Platz für 74’000 Besucher und wird für Fussball- und Rugby-Spiele genutzt.

Und für Ed Sheeran. Der britische Singer-Songwriter spielte im Juni gleich viermal vor ausverkauftem Haus. Tickets gab es auf dem Schwarzmarkt für 800 Pfund. Das ist etwa so viel, wie ein Minenarbeiter einst verdiente – nicht im Monat, nicht im Jahr. Sondern im ganzen Leben.

  • Einstimmen: Der Film «Tiger Bay» von 1959 mit John Mills und Horst Buchholz spielt im Hafenmilieu von Cardiff.
  • Entspannen: Im 53 Hektar grossen Bute Park mit altem Baumbestand und herrlichen Liegewiesen. www.bute-park.com

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