Schlangen vor dem Stimmlokal

Initiativen zur Beschränkung des Ausländeranteils in der Schweiz mobilisieren das Stimmvolk – und scheitern oft deutlich.

Die «Überfremdungsfrage» trieb Männer und Frauen in Scharen zu den Urnen wie hier bei der alten Gewerbeschule in der Spalenvorstadt. (Bild: Kurt Wyss)

Initiativen zur Beschränkung des Ausländeranteils in der Schweiz mobilisieren das Stimmvolk – und scheitern oft deutlich.

Schlange stehende Menschen vor Wahllokalen kennen wir heute vor allem aus der Dritten Welt. Bei uns wählt heutzutage die Mehrheit auf dem Korrespondenzweg, vorläufig noch auf Papier, in Genf bereits elektronisch. So reiht sich die Stimmabgabe ein in andere, sehr gewöhnliche Handlungen wie das Erledigen von Einzahlungen oder das Füllen eines elektronischen Warenkorbs.

Die Länge der Menschenschlange am 19. und 20. Oktober 1974 war aber eine derart abnorme Normalität, dass sie den Fotografen Wyss reizte, sie festzuhalten. Die Schlange war auch darum so lang, weil seit gut drei Jahren auch Frauen auf eidgenössischer Ebene wählen und abstimmen durften.

Bei der Abstimmung ging es um die so-genannte «Überfremdungsfrage», genauer um den dritten Vorstoss ähnlicher Art seit der bekannten Schwarzenbach-Initiative, über die 1970 abgestimmt worden war. Die 1974 zur Debatte stehende Initiative wollte den Ausländerbestand von einer Million auf die Hälfte reduzieren und zudem bestimmen, dass, ausser Genf, kein Kanton mehr als 12 Prozent Ausländer haben dürfte. Die Ablehnung war mit 65,8 Prozent Nein-Stimmen erstaunlich deutlich. Die Stimmbeteiligung, wie das Bild belegt, mit 70,3 Prozent auch für diese Zeit aus­serordentlich hoch.

Die Einwanderung war so organisiert, dass sich die Arbeitslosigkeit exportieren liess.

Die Abstimmung fiel in eine Krisenzeit. Noch spürte man die Wirkung des Erdöl-Schocks von 1973. Eine Zustimmung zur Beschränkungsinitiative wäre – in wirtschaftlicher Hinsicht – sicher selbstschädigend gewesen. In der Ablehnung sahen die Initianten und ihre Anhänger, immerhin rund 880 000 Bürger und Bürgerinnen, ebenfalls eine Selbstschädigung, allerdings durch die Gefährdung der nationalen Eigenart und der natürlichen Umwelt.

Die Krisenzeit hätte auch zu einer wesentlich stärkeren Unterstützung des nationalistischen Protektionismus führen können. Sie tat es nicht. Die Einwanderungsordnung war ­so eingerichtet, dass der Konjunktureinbruch mit einem drastischen Abbau der Gast- oder Fremdarbeiter aufgefangen und so die Arbeitslosigkeit exportiert werden konnte.

Die Wählerschlangen sind weg. Geblieben ist die Problematik. Eine doppelte Problematik einerseits der Migrationspolitik und andererseits der mit ihr unzufriedenen Kräfte, die man ruhig als Teil des Problems verstehen kann. Über die letzte Initiative dieser Art – sie forderte eine Beschränkung der Nichtschweizer auf 18 Prozent der Landesbevölkerung – stimmte der Souverän im Jahr 2000 ab. Sie fand mit 36,2 Prozent Ja-Stimmen erstaunlich wenig Zustimmung, und die Stimmbeteiligung lag mit 45,3 Prozent wesentlich tiefer als 1974. Doch noch dieses und dann auch nächstes Jahr erwarten uns zwei weitere Abstimmungen über das alte Thema.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 16.08.13

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