Das Schild steht ganz am Dorfausgang. Und weil unsere Hütte ein paar Minuten oberhalb von Sent liegt, dürfen wir uns täglich ein wenig amüsieren. «Na pavlar ils chavals», steht da. Also palavern wir nicht mit den offenbar ruhebedürftigen Rössern.
Später stellen wir fest, dass wir natürlich nicht die Ersten sind, die das romanische Fütterungsverbot verkauderwelscht haben. Das ist schon der Autorin Angelika Overath passiert, die in «Alle Farben des Schnees» beschreibt, wie es ist, wenn man nicht bloss Ferien macht in Sent, sondern für immer hierher zieht.
Es ist ein schönes Buch. Und wo wäre es besser zu lesen als hier, wo höchstens Menschen mit Herzen aus Stein nicht wenigstens für ein paar Momente daran denken, wie es wäre. Wie es wäre, Sack und Pack und sein ganzes Dasein zu packen und ins Unterengadin zu ziehen und für immer diesen Blick auf die Dolomiten zu geniessen.
Eine intakte Lebensgemeinschaft
Mitte des 19. Jahrhunderts war Sent die grösste Gemeinde des gesamten Tals, weit vor St. Moritz oder Scuol. Heute wirkt der Ort wie eine intakte Lebensgemeinschaft – auch wenn die Hälfte der Wohnungen inzwischen an Feriengäste vermietet werden.
Wo andere Bergdörfer wegen der Zweitwohnungen und der kalten Betten nach und nach ihre Zentren verlieren, hat Sent noch zwei Bäckereien, einen Käseladen, eine Metzgerei, einen Volg und sogar einen Reformladen, den «Sgabuz», was so viel wie Kabuff heisst.
Trotzdem wirkt der Ort abgeschieden, was wohl daran liegt, dass die Eisenbahn in Scoul endet. Auch die Hauptstrasse führt im Talboden an Sent vorbei. Wer hierher will, fährt in Serpentinen auf eine helle Terrasse hoch über dem dunklen Inn. Auf den letzten Kilometern haben frühere Generationen eine herrschaftliche Allee gepflanzt, um ihren Reichtum zu demonstrieren.
Mit Vorteil in Kreisbewegungen
Sent ist ein Ort, an dem sich Kreise schliessen. Randulins werden jene genannt, die ihr Glück in der Ferne suchen. Generationen solcher «Schwalben» zogen ins Ausland, meist nach Italien, wo sie als Zuckerbäcker, Bankiers oder im Kaffeehandel Reichtum fanden – oder komplett verarmten. Die Erfolgreichen kamen zurück und bauten Palazzi im italienischen Stil, die sie neben die typischen Engadiner Bauernhäuser stellten. Andere folgten und folgen noch immer ihren Spuren – und kehren wieder zurück.
Auch wir Unterländer bewegen uns hier oben mit Vorteil in Kreisbewegungen. Zum Beispiel mit dem Postauto nach Scuol, von dort mit der Gondelbahn ins Skigebiet Motta Naluns, wo zumindest die steileren Hänge überraschend menschenleer sind. Zum Abschluss schweben wir von der Spitze des Salaniva (2710 Meter über Meer) über die zehn Kilometer lange Traumpiste direkt zurück nach Sent.
Ein andermal nehmen wir zu Fuss den Höhenweg Richtung Scoul und setzen uns etwas oberhalb des Nachbarortes auf die Terrasse des Bauernhofs Chavalatsch. Unten Kühe und Schafe, die das Kind begeistern, oben decken wir uns mit hofeigenem Bergkäse und Salsiz ein. Dazu vielleicht ein Schluck aus der Clozza, einer von über 20 Mineralquellen, die in der Region entspringen. Das Geld legt man ins Kässeli.
Danach geht es wieder hoch, in Richtung Bergrestaurant Vastur. Wer hier isst oder trinkt, darf sich danach auf einen bereitstehenden Schlitten setzen, hinunter ins Tal sausen und ihn kurz vor Sent einfach in den Schnee stecken.
Als wir zusammenpacken wieder die Frage: Könnten wir das auch – wie Angelika Overath hierher ziehen? Zwar redet meine Frau kein Romanisch. Aber als Bündner Steingeiss hat sie die Sehnsucht nach dem Berg im Blut. Wir schauen in den Schnee, der hier oben noch bis April oder Mai liegen wird. Dann fahren wir los. Und freuen uns, dass der Frühling bei uns unten viel früher kommt.
Aber nach Sent zurückkehren, das werden wir garantiert.
Abfahren: Das Skigebiet Motta Naluns ist nicht sehr gross, aber fein. Die Preise sinken ab 11.15 Uhr im Stundentakt. Die Traumpiste trägt ihren Namen zu Recht.
Anschauen: Der Skulpturenweg Sur En unterhalb von Sent ist im Winter mit Schnee noch verzaubernder als im Sommer.
Abtauchen: Ins Senter Tagebuch von Angelika Overath – «Alle Farben des Schnees» von 2010.