In der Primarschule Zwingen haben die Sommerferien angefangen. Es sind seit vielen Wochen die ersten ruhigen Tage an dieser Schule. Anfang Mai ist ein Konflikt an die Öffentlichkeit gekommen, der intern schon länger schwelte. Ein Konflikt, der nur Verlierer hinterlässt und der sich mit etwas Gelassenheit wohl hätte verhindern lassen.
Schüler nutzten den freien 1. Mai, um den Schulhof mit Plakaten vollzukleben, die es in sich hatten: «Unsere Klassenlehrerinnen haben gekündigt, weil sie von unserem Schulleiter gemobbt und beleidigt worden sind. Wir finden das sehr ungerecht und wollen, dass das sich ändert!» Wenig später titelte die «Basler Zeitung»: «Eklat an der Primarschule Zwingen» (nicht online), die «bz Basel» schrieb: «Lernstoff vernachlässigt: Steiner-Methode an Zwingener Primarschule». Was war geschehen?
Falsch bewertete Testergebnisse
Jeweils im Herbst schreiben die Fünftklässler im Laufental einen regionalen Vergleichstest, geprüft werden Deutsch und Mathe. Es handelt sich dabei nicht um einen der offiziellen Checks. Die Ergebnisse bestimmen dennoch mit, in welchen Zug der Sekundarschule ein Kind übertreten darf.
Eine Klasse an der Primarschule in Zwingen fällt bei diesem Vergleichstest im vergangenen Oktober durch besonders tiefe Noten auf. Die verantwortliche Lehrerin Marianne Lander fällt aus allen Wolken. Sie hat diese Klasse erst wenige Monate zuvor übernommen. Das ist so üblich, in Zwingen bekommen die Klassen alle zwei Jahre eine neue Lehrperson.
Offenbar wiesen diese Fünftklässler im Vergleich zu Gleichaltrigen im Laufental einen Wissensrückstand auf. Lander informiert den Schulleiter Erich Rubitschung über die besorgniserregenden Testresultate. Nichts geschieht.
Es ist dieser Moment, in dem der Konflikt zu keimen beginnt. Ab hier geht so vieles schief, dass aus einem zwar ärgerlichen, aber definitiv lösbaren, innerschulischen Problem eine medial hochgepeitschte Affäre wird, die grossen Schaden bei Schülern, Eltern und Lehrern hinterlässt.
Block-Unterricht, Gartenbau und Eurythmie
Lander findet heraus, dass ihre Vorgängerinnen die Klasse teilweise nach steinerpädagogischen Ansätzen unterrichtet haben. So wurde der Unterricht etwa in sogenannten Epochen gestaltet. Dabei konzentriert sich eine Klasse für eine bestimmte Zeit auf ein Thema, zum Beispiel Mathematik, um danach das nächste Fach zu vertiefen. Die Fächer werden also in Blöcken unterrichtet und nicht parallel.
Im Wintersemester gab es zudem eine Wochenlektion Eurythmie (eine anthroposophische «Bewegungskunst»), im Sommer eine Stunde Gartenbau. Jeweils zum Unterrichtsbeginn mussten die Kinder ausserdem einen Morgenspruch aufsagen, einen von Rudolf Steiner verfassten Text.
Als Lander mit dem zusammengetragenen Register der pädagogischen Sünden beim Schulleiter Erich Rubitschung vorstellig wird, findet sie wieder kein Gehör. Er verteidigt die Methoden gar an einem ausserordentlichen Elternabend vor den aufgebrachten Eltern. Sie befürchten nach dem Vergleichstest nämlich, dass ihre Kinder schlecht vorbereitet in die 6. Klasse wechseln, wo der Entscheid darüber fällt, in welchen Leistungszug der Sekundarschule die Schüler wechseln. Rubitschung beteuert, dass bis Ende Jahr sämtliche Wissenslücken geschlossen würden.
Derart abgekanzelt, kündet Lander ihre Stelle und wendet sich an den Lehrerverein Baselland (LVB). Der reicht beim kantonalen Amt für Volksschulen (AVS) eine Aufsichtsbeschwerde ein und ist auch sogleich mit einem pointierten Statement zur Hand. Eine Rechtsberaterin des LVB lässt sich in der «Basler Zeitung» mit der Aussage zitieren, die Rudolf-Steiner-Pädagogik sei «nicht mit der religiösen Neutralität der öffentlichen Schulen vereinbar».
Die These, dass die Lehrerinnen schuld sind, wird mit einer solchen Vehemenz wiederholt, dass sie zur Gewissheit wird.
Lander ihrerseits bemüht gegenüber «20 Minuten» ein populäres Steinerschul-Klischee: «An einer staatlichen Schule die Buchstaben des eigenen Namens zu tanzen und das Morgengebet zu sprechen, ist nicht mehr religionsneutral.» Die Präzisierung, dass es sich bei der Anthroposophie nicht um eine Religion handelt, sucht man in beiden Medienberichten vergeblich.
Damit ist der Ton vorgegeben für die weitere Diskussion, für das, was weiter geschehen wird. Der Schluss lautet: Die Lehrerinnen und ihre Steiner-Methoden sind schuld an den Lernrückständen in dieser Klasse. Diese These wird so oft und mit einer solchen Vehemenz wiederholt, dass sie zur Gewissheit wird.
Freude am Lernen
Doch es gibt Indizien, die gegen diese Lesart sprechen. Nur fliessen diese nicht in die Medienberichterstattung ein. Zudem wird suggeriert, dass sich die Eltern mehr oder weniger geschlossen gegen die steinerpädagogischen Unterrichtsmethoden wehrten.
Dabei gibt es durchaus auch solche, die diese Methodenvielfalt zu schätzen wissen. Ein Vater sagt: «Mein Sohn hat Freude am Lernen entwickelt. Seit den Gartenbau-Stunden interessiert er sich plötzlich brennend für Pflanzen und Biologie. Er ist regelrecht aufgeblüht.» Erst Anfang Juli findet auch diese Sichtweise Eingang in die Medien, als nämlich einige Eltern von Zwingener Primarschülern einen Leserbrief verfassten, in dem sie sich explizit für die anthroposophischen Methoden aussprechen.
Weitere relativierende Informationen kommen ans Licht. So sei etwa die fünfte Klasse, die beim regionalen Vergleichstest so schlecht abgeschnitten habe, als «schwierige Klasse» bekannt gewesen, wie mehrere involvierte Eltern gegenüber der TagesWoche erzählen. Ein Vater sagt: «Die Klasse war personell sehr wacklig aufgestellt.» Häufige Lehrerwechsel sowie eine Aufteilung und spätere Wiederzusammenführung der Schüler hätten grosse Unruhe ins Klassengefüge gebracht.
Eine Mutter weist zudem darauf hin, dass es in dieser Klasse gleich mehrere Schüler habe, die sogenannt lernzielbefreit unterrichtet würden. Das heisst, diese Schüler können aufgrund ihrer individuellen Voraussetzungen nicht an denselben Leistungszielen gemessen werden wie der Rest der Klasse.
Lehrplan und Stundentafel wurden nicht eingehalten
Die fünfte Klasse hat also eine besondere Zusammensetzung, die aber bei der Beurteilung der Ergebnisse aus der Vergleichsprüfung nicht berücksichtigt wurde. Dies stellt das Amt für Volksschulen in einem Bericht fest, den es aufgrund der Aufsichtsbeschwerde des Lehrervereins erstellen liess. Dieser Bericht liegt der TagesWoche vor.
In erster Linie habe das AVS untersucht, ob der Unterricht an der Primarschule Zwingen dem offiziellen Lehrplan und der Stundentafel entspreche, erklärt Amtsleiter Beat Lüthy. «Der Bericht stellt kein Urteil dar über die Qualität des Unterrichts und ist ebenso wenig ein Angriff auf die Steinerpädagogik.» Doch sei man zum Schluss gekommen, dass in Zwingen nicht gemäss Lehrplan und Stundentafel unterrichtet wurde.
So sei es nicht zulässig, Eurythmie als fest verankerten Teil des Stundenplans zu unterrichten, da diese nicht zum Lehrplan gehöre. Die Methode des Epochenunterrichts sei zwar als eine unter vielen zulässig, nicht jedoch in der Ausprägung, wie es in Zwingen der Fall gewesen sei. Eine Lehrerin habe dort ausschliesslich in Epochen unterrichtet. Und auch am Morgenspruch stört sich das AVS: Dieses «Morgenritual mit täglich wiederholtem und immer in der gleichen Körperhaltung vorgetragenem Morgenspruch kann als religiös oder sektiererisch empfunden werden», sagt Lüthy.
So viel zur Bewertung der Steinerpädagogik. Sie wird vom AVS nicht prinzipiell verdammt und verbannt, wie das in vielen Medien kolportiert wurde, sondern darf im Rahmen der Methodenfreiheit punktuell durchaus in den Unterricht einfliessen.
In dem siebenseitigen und von Regierungsrätin Monika Gschwind unterschriebenen Report findet sich jedoch auch folgende Passage:
«Die BKSD (Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion) stellt fest, dass die Kinder mit individuellen Lernzielen sowie die spezielle Klassenzusammensetzung bei der Auswertung der Vergleichstests nicht berücksichtigt wurden. Wichtig erscheint, dass bei den Vergleichstests im Laufental zukünftig die verschiedenen Lernvoraussetzungen berücksichtigt werden.»
Diese eher beiläufige Bemerkung zielt direkt auf das Kernargument der Kritiker, die in der Steinerpädagogik den Grund für das schlechte Abschneiden der fünften Klasse sehen. Natürlich schneidet eine Klasse im Schnitt schlechter ab, wenn die Noten der lernzielbefreiten Schüler mit in die Gesamtbeurteilung einfliessen. Die Aufregung um die Testresultate stand am Anfang dieser Affäre – nun stellt sich nach diesem Befund des AVS die Frage, ob es überhaupt Grund gab, sich aufzuregen.
Krisenkonzept ist nicht krisensicher
Eine weitere Erkenntnis aus dem Bericht gibt Aufschluss darüber, weshalb sich eine solche Ungereimtheit zum mittleren Skandal entwickeln konnte. Das AVS untersuchte angesichts der zunehmend verhärteten Fronten zwischen Eltern, verschiedenen Lehrern, Schulleitung und Schulrat nämlich auch, inwiefern an der Primarschule Zwingen ein Krisenkonzept besteht. Ob die Führungsverantwortlichen an dieser Schule also wissen, wie Konflikte gelöst werden können, bevor sie sich zur Krise auswachsen.
Die Aufsichtsbehörde kommt zum Schluss, dass die Schulleitung und der Schulrat in diesem Punkt versagt haben. Ein Konzept zur Lösung von Konflikten habe nur in Ansätzen bestanden, namentlich dafür, wie mit Konflikten mit Eltern umgegangen werden soll. Wenig Gedanken gemacht habe man sich darüber, wie teaminterne Krisen überstanden werden können.
«Dergestalt konnte das Konfliktkonzept nicht als Leitplanke dienen», schreibt das AVS. Und weiter:
«Eine wechselhafte Klassensituation sowie einseitige Unterrichtsformen haben die Situation verschärft. Das mangelhafte Konfliktmanagement von Schulleitung und Schulrat haben schliesslich zur Eskalation geführt.»
Das Versagen sieht das AVS denn auch hauptsächlich beim Schulrat, dem Gremium, das in letzter Instanz für die Einhaltung von Lehrplan und Stundentafel verantwortlich ist:
«Aus den Erwägungen geht hervor, dass der Schulrat der Primarschule Zwingen seine Führungs- und Aufsichtspflichten gegenüber der Schulleitung sowie den Lehrpersonen in ungenügender Weise wahrgenommen hat.»
Aufsichtsbeschwerde gegen den Schulrat
Der vom AVS scharf kritisierte Schulrat liess mit einer Reaktion nicht lange auf sich warten. Mitte Juni entliess er den Schulleiter Erich Rubitschung per sofort. Warum der Schulleiter gehen musste, wenn doch das AVS den Fehler ganz klar beim Schulrat sieht, wollte im Gremium auf Anfrage niemand erklären. Der verantwortliche Schulrat, Harald Schmidlin, schlug die Möglichkeit zur Stellungnahme mit Hinweis auf das laufende Verfahren aus.
Denn neben derjenigen des Lehervereins ist noch eine weitere Aufsichtsbeschwerde beim AVS hängig, diesmal an die Adresse des Schulrates. Eltern haben in einem Brief an den Regierungsrat ihr Misstrauen gegenüber diesem Gremium geäussert. Das AVS sah sich darauf erneut gezwungen zu handeln. Ausserdem gab die Gemeinde Zwingen bei der Fachhochschule Nordwestschweiz eine externe Evaluation ihrer Primarschule in Auftrag.
Auch wenn der Schulhof in Zwingen nun ruhig daliegt, sich Kinder, Eltern und Lehrer in den Ferien am Erholen sind – ausgestanden ist der Konflikt an dieser Schule noch nicht.