Wer einmal schlecht drauf ist, gilt schnell als Versagerin oder Versager oder gleich als depressiv. Dabei gibt es gute Gründe, sich manchmal auf die Traurigkeit einzulassen, die hie und da jeden überfällt, sagt die Journalistin Angelika Schett im Interview. Sie hat ein Buch darüber geschrieben.
Angelika Schett, was macht Sie traurig?
Einmal sass ich im Tram und mein Blick fiel auf eine ziemlich übergewichtige Frau mit ihrem etwa 10-jährigen Sohn, die nebeneinander sassen. Beide lutschten an einem Wassereis, es war ein heisser Tag. Sie wirkten nicht so, als hätten sie es leicht im Leben. Ich hatte aber das Gefühl: In diesem Moment im Tram haben sie es einfach gut zusammen. Dabei bemerkte ich, dass manche Mitfahrende missbilligend guckten, weil das Eis ein bisschen Richtung Boden kleckerte. Da schaute die Frau zu mir hin, und mir ging durch den Kopf: Ich muss jetzt ein Lächeln hinbekommen, das nicht von oben herab mitleidig wirkt, sondern einen guten Rahmen gibt, damit nicht auseinanderbricht, was Mutter und Sohn gerade zusammen haben. Es machte mich traurig, dass beide diesen leicht verächtlichen Blicken ausgesetzt waren. Manchmal wird man eben traurig, wenn man nur durch die Welt geht und schaut.
Für Ihr Buch haben Sie zwölf Wissenschaftler, Psychologen und Philosophen interviewt. Daraus ist ein regelrechtes Plädoyer für die Traurigkeit geworden. Hat sie das nötig?
Ja. Die Rede ist heute viel eher von einem Burn-out oder einer depressiven Erkrankung. Das sind Diagnosen, die einer Therapie bedürfen. Man kann etwas dagegen machen. Aber die Traurigkeit, jene, die uns ab und an überfällt, manchmal auch ohne ersichtlichen Grund, die führt ein Schattendasein, über die sprechen wir kaum.
Das ganze revolutionäre Potenzial steckt wahrscheinlich in der Traurigkeit oder zumindest in der Unzufriedenheit.
Ganz genau, erst wenn man merkt, was nicht stimmt, macht man etwas dagegen. Das belegt auch eine Studie der Universität New South Wales. Traurige Menschen schauen genauer hin als ihre sorglosen Zeitgenossen. Missstände erschliessen sich ihnen eher als den Daueroptimisten.
Deshalb hat der Kapitalismus den Zwang zur Freude übernommen. Ich meine: Ich wäre auch lieber tough. Wenn man traurig ist, muss man sich eingestehen, dass man vielleicht weniger tough ist, als man gerne wäre. Wenn man traurig ist, ist man schwach. Das ist nicht so praktisch im Kampf um Arbeitsplätze und Leistungsboni.
Es ist doch auffällig, wie man sich heute an die Kandare nimmt und sich fragt: Darf ich überhaupt traurig sein? Es gibt Zeiten, in denen besonders wenig Raum für Traurigkeit vorhanden ist.
In Krisen?
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Menschen in Deutschland beispielsweise nicht wirklich traurig, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätten. Sie haben stattdessen die Ärmel hochgekrempelt, alles aufgebaut und sich gefreut am Wirtschaftswunder.
Und jetzt gibt es Berichte von Kindern dieser Überlebenden. Sie sagen, sie hätten die ganze unterdrückte Traurigkeit mitgekriegt, aber nicht einordnen können, eine grosse Belastung.
So ist es. Die Psychoanalytikerin für Kinder und Jugendliche Gisela Zeller-Steinbrich sagt in meinem Buch sinngemäss, dass es dauert, bis ein Kind sagen kann, dass es sich traurig fühlt. Diesen Zustand zu erkennen, ist ihm nicht in die Wiege gelegt. Und wenn Eltern immer ihre eigene Traurigkeit unterdrücken, kommt das Kind auch nicht dazu.
Dann ist nie die Gesellschaft schuld, wenn man krank oder arbeitslos ist, sondern immer der Einzelne selber.
Ja. Und ist es nicht so, dass man heute fast immer das persönliche Fehlverhalten in den Vordergrund stellt und viel weniger kritisiert, was um einen herum nicht in Ordnung ist, was den Menschen nicht zuträglich ist?
«Denken Sie an den Spruch: Lieber ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein.»
Konservative würden jetzt das Gegenteil behaupten. Dass wir keine Belastungen mehr aushalten, sondern sogleich bei jedem Wehwechen nach Unterstützung brüllen. Stichwort: Kuschelpädagogik.
Was heisst denn schon Kuschelpädagogik. Wer so etwas sagt, hat keine Ahnung vom heutigen Leben eines Kindes.
Wie leben Kinder heute?
Sehr allgemein gesagt: Kinder werden in bunte Farben gehüllt mit lustigen Motiven auf ihrer Kleidung. Sie werden durch die Stadt gefahren, lieb von der Kita abgeholt. Aber gleichzeitig sind sie unter dauernder Beobachtung.
Schon in der Kita erstellen die Betreuerinnen und Betreuer Entwicklungsberichte …
Natürlich ist es gut, frühzeitig zu helfen, wenn sich Entwicklungsstörungen bemerkbar machen. Nur kommt mir die Toleranz für Abweichungen zunehmend kleiner vor. Alles wird unter die Lupe genommen, so etwa auch das kindliche Sozialverhalten. Zieht sich ein Kind im Kindergarten öfter zurück, wird das gleich zum Thema mit den Eltern. Kinder werden bereits sehr früh bewertet. Ist alles «normal», oder brauchen sie spezielle Förderung von dafür ausgebildeten Fachkräften? Kleine Menschen bekommen so ganz früh zu spüren: Wenn ich nicht der Norm entspreche, bin ich falsch.
War das früher anders?
In den Fünfziger-, Sechzigerjahren hatte man es noch nicht so mit dieser Art von Beobachtung. Freche Kinder wurden nicht selten übel bestraft, und um die sonstigen Auffälligen kümmerte man sich deutlich weniger als heute.
War das besser?
Nein, bestimmt nicht, und ich will «früher, und «heute» schon gar nicht gegeneinander ausspielen. Aber zu bedenken geben möchte ich schon: Möglicherweise bekommt ein Kind fast lieber eine Strafe statt der Diagnose, dass mit ihm seelisch etwas nicht stimmt. Diagnosen sind nicht zuletzt auch stigmatisierend. Alle wollen nur das Beste für das Kind, aber dieses vermeintlich Beste vernebelt manchmal den Blick auf das Kind als eigenständiges Wesen. Eltern und Erzieher gehen davon aus, sie machen etwas Gutes, wenn sie die Entwicklung des Kindes so genau beobachten.
Dabei kurbeln sie die totalitäre Maschine an, die uns sagt, wir müssten funktionieren.
Ja. Heute geht man damit meiner Ansicht nach zu weit. Kinder entwickeln sich in einem rasanten Tempo während ihrer ersten sechs Lebensjahre. Jedes Kind tut das in seinem eigenen Tempo. Und dann kommen sie in die erste Klasse und sollen möglichst alle gleich entwickelt sein. Das scheint mir absurd.
Mehrere Ihrer Interviewpartner im Buch befürchten, dass wir Menschen uns an die Wand fahren, wenn wir die Traurigkeit weiterhin so ausschliessen.
Ja, Finanzkrisen sind ein Beispiel dafür, wie der Philosoph Wilhelm Schmid im Gespräch anführt. Es kann nicht gutgehen, wenn wir alle so fröhlich in virtuelle Wertpapiere investieren und das Gefühl haben, der Gewinn könne weiter und weiter wachsen, ohne harte Währung.
«In unserer erfolgsorientierten Gesellschaft kann Traurigkeit als etwas Störendes empfunden werden, was zu einem Verlust der Menschlichkeit führt.»
Für den Psychologen Arnold Retzer hat das auch mit falscher Hoffnung zu tun.
Das hat mich etwas verwundert. Retzer findet es sogar besser, die Hoffnung ganz aufzugeben. Man solle sich besser eingestehen, was man nicht erreichen kann, und so Ruhe finden. Das bekomme einem besser, als immer irgendwelchen Zielen nachzuhecheln und sie doch nie zu erreichen.
Hat Sie das überzeugt?
Nicht nur. Ich würde schon sagen, dass wir Hoffnung brauchen. Aber zu sagen: «Es wird alles gut», ist ignorant. Es wird nicht alles gut, das zeigt uns die Erfahrung; manches wird gut und manches wird deutlich schlechter. Wenn man sich nun der Traurigkeit hie und da hingibt, kann man etwas besser erkennen, wann es sich zu hoffen lohnt und wann nicht.
Haben Sie denn Hoffnung, dass die Traurigkeit wieder mehr Daseinsberechtigung erhält?
Wir haben in der Schweiz vergleichsweise gloriose Lebensumstände. Es geht doch den meisten hier gut. Da verkennt man leichter, dass die Welt manchmal auch traurig ist. In Lebensumständen, die von vornherein belastend und schwierig sind, gestatten es sich die Menschen eher, traurig zu sein.
Wirklich?
Ich war zum Beispiel einmal in Kuba. Wenn einem dort der Kaffee ausgeht, klingelt man beim Nachbarn und bekommt ein Tässchen. Bei der Gelegenheit erzählt man sich auch, was einen bedrückt. Stellen Sie sich vor, Sie erzählten ihrem Nachbarn, Sie seien traurig. Wir sind hier nicht in dieser Art aufeinander angewiesen.
«Traurigkeit trifft jeden, unabhängig vom Alter.»
Ist das schlecht? Selbstständigkeit kann auch befreiend sein.
Es kann zum Problem werden, weil man so tun kann, als bekomme man alles alleine hin. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das ändert, wenn die Bedingungen sich änderten. Wenn mehr Leute einwandern und wir unsere Jobs und Ressourcen teilen müssten. Da gibt es zwar die Sorge, dass geflüchtete Menschen uns etwas streitig machen oder uns etwas wegnehmen. Würden wir uns jedoch mit ihrer Traurigkeit konfrontieren, könnten wir vielleicht auch unserer eigenen mehr Raum geben.
Allerdings sind wir besser darin, wütend zu werden statt empathisch. Wir regen uns lieber über «kriminelle» Einwanderer und sogenannte «Sozialschmarotzer» auf.
Ja, empathisch werden wir nicht so schnell, weder mit uns selbst noch mit anderen. Dafür scheint kein Raum zu sein. Die Härte, die wir uns abverlangen, bekommen dann auch die Menschen von woanders zu spüren.
Vielleicht, weil man etwas verliert? Wenn ich meinen Nachbarn helfe, habe ich keine Freizeit mehr.
Wir müssen uns nicht aufopfern, wenn wir empathisch sind.
Vielleicht schon, wenn wir wirklich helfen wollen, können Sie und ich nicht in unseren geräumigen Häuschen im Grünen bleiben, sondern müssten vielleicht ein paar Leute aufnehmen, die es auch nötig hätten.
Das wäre möglich, und manche Menschen tun das auch. Nur gibt es noch eine andere Ebene. Meine Tochter hatte in der Primarschule einen Mitschüler, der Schlimmste in der Klasse. Einmal brachten wir ihn nach einem Fest nach Hause, er wohnte an einer der befahrensten Strassen Basels. Die Wohnung verfügte über keine Diele, man flog geradezu ins Wohnzimmer, und der Strassenlärm war furchtbar laut. Kein Wunder, dass der Knabe nervös war und ständig auffiel im Unterricht. Aber diese Verhältnisse können wir nicht nur individuell lösen, da müssten wir prinzipiell an den gesellschaftlichen Verhältnissen arbeiten.
Ist die Gesellschaft bereit, das zu tun? Mich dünkt manchmal, auch sogenannt kritischen Politikern und auch Journalisten geht es nur um den Protest, sie finden die Action geil und die Aufmerksamkeit. Ich bin mir nicht sicher, ob es dabei um Menschen geht.
Diese Frage kann man sich wirklich stellen. Wer meint es ernst mit dem Engagement für mehr Gerechtigkeit? Wie viel Jargon benutzen Politiker und Politikerinnen überall auf der Welt? Sie sagen, es ginge um bessere Lebensbedingungen, aber sie reden nicht wirklich mit den Bürgerinnen und Bürgern, um zu erfahren, was die tatsächlichen Bedürfnisse sind. Ich spreche an dieser Stelle bewusst von «Bürgern», da die politische Sprache diese emanzipatorische Bezeichnung öfter links liegen lässt.
Womit hat das zu tun?
Wenn im politischen Kontext oder auch in den Medien immer wieder von «Menschen» die Rede ist, dann kreiert man damit nach meinem Empfinden ein Gefälle, eine Ungleichheit. Bürger haben verbriefte Rechte. Menschen sind wir sowieso.
Ist es nicht eine Kunst, jemandem beizustehen und ihn als Bürger ernst zu nehmen, ohne aus einer Position der Stärke super Ratschläge abzugeben?
Ja, deshalb trauen sich im Gegenzug auch nur wenige, um Hilfe zu bitten. Stellen Sie sich vor, Sie sagten jemandem: «Ich bin traurig, steh mir bitte bei.» Im Buch «Unsere Seelen bei Nacht» des amerikanischen Autors Kent Haruf gibt es folgende Geschichte: Eine Witwe klingelt bei einem Witwer, der nur einen Block von ihr entfernt wohnt. Beide leben schon lange allein. Sie kennen sich flüchtig. Sie sagt:«Ich traue mich fast nicht, das zu sagen, aber Sie sind schon lange ohne Frau und ich ohne Mann. Die Nächte sind für mich am schlimmsten, da fühle ich mich so verlassen. Ich wäre dankbar, wenn Sie nachts zu mir kämen, nur so, Sexualität interessiert mich längst nicht mehr. Sie kommen abends und wir könnten ein bisschen reden, zusammen einschlafen und am Morgen gehen Sie wieder.»
Und wie reagiert der Mann?
Er ist überrascht, lässt sich aber darauf ein. Und dann kommen die Dorfbewohner und finden das ungehörig. Er sagt zu der Witwe: «Du brauchtest viel Mut, mich so zu fragen.» Und sie erwidert: «Ja, aber ich habe gedacht, du bist ein Gentleman. Wenn du mich abgewiesen hättest, würdest du das bestimmt nicht überall herumerzählt haben. Dann wüssten nur du und ich von meinem Vorschlag, und damit hätte ich leben können. Ich wäre nicht schlimmer dran gewesen als vorher.»
Sie zeigt Schwäche und er begegnet ihr auf Augenhöhe.
Das sollte doch möglich sein. Es gibt auch etwas Universelles, etwas, in dem wir Menschen gleich sind: Wir alle sind auf andere Menschen angewiesen, wir alle wollen manchmal mit der Familie oder Freunden etwas trinken gehen, es schön zusammen haben und nicht zu oft allein sein müssen. Da muss man gar nicht so die Unterschiede betonen.
«Die Botschaft vom Blues ist: I’m down, but it’s alright.»
Ja, das haben wir letztes Wochenende am Birsköpfli auch gedacht. Jeder Quadratzentimeter der Wiese war besetzt, Menschen unterschiedlichster Nationen liessen sich die Sonne auf den Buckel scheinen, was will man mehr von einem Sonntag?
Das ist genau so eine Szene, die illustriert, was ich meine. Wir brauchen einander, und ein solches Zusammensein kann einen manchmal auch wieder aus einer anfallartigen Traurigkeit herausführen. Und sonst: Menschen, die sich ihrer Traurigkeit nicht hingeben, sondern immer fröhlich sind und alles wunderbar hinzubekommen scheinen, finde ich im Umgang schwer erträglich. Man muss sich selber durchaus ein bisschen wichtig nehmen können, um zu sagen: «Ich bin jetzt traurig, das lasse ich mir jetzt nicht nehmen.» Das ist auch ein Zeichen von Selbstwert.
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*Die Zitate stammen aus dem Buch «Des Menschen Traurigkeit. Zwölf Gespräche» von Angelika Schett, Hogrefe Verlag, 2017.