Sie hat Schizophrenie, er ist der bodenständige Typ – daran droht ihre Ehe zu zerbrechen

Christine wird immer wieder von Dämonen gestreift, die sie in einen Strudel dunkler Gedanken und Todessehnsüchte ziehen. Ihr Mann, Thomas, kann das nicht verstehen. Jetzt ziehen auch noch die Kinder aus. Das Ehepaar sucht deshalb neue Wege, um sich nahe zu kommen.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Christine wird immer wieder von Dämonen gestreift, die sie in einen Strudel dunkler Gedanken und Todessehnsüchte ziehen. Ihr Mann, Thomas, kann das nicht verstehen. Jetzt ziehen auch noch die Kinder aus. Das Ehepaar sucht deshalb neue Wege, um sich nahe zu kommen.

Die Dämonen packen Christine Kuhn auf einem verschneiten Waldweg. Sie spaziert mit ihrem Sohn durch die Kälte, der weisse Weg führt unter kahlen Bäumen hindurch, geht immer weiter und scheint nie zu enden. Die dunklen Geister flüstern Christine zu: «So wird dein restliches Leben enden. So grausam einsam und kalt.» Christine traut sich nicht, mit jemandem darüber zu reden, denn die Dämonen sagen: «Halte dich von Nachbarn und Freunden fern.» Christine wird immer einsamer. 

Sie kennt Dämonen und Engelswesen, seit sie ein Mädchen ist. Schon damals hält sie das Leben auf dieser Erde fast nicht aus. Als ihr Sohn auf die Welt kommt, fühlt sie sich so überfordert, dass die dunklen Geister stärker werden. Beim zweiten Kind stürzt Christine in eine schwere Psychose.

Die Dämonen ziehen sie in einen tiefen Strudel aus rabenschwarzen Gedanken und Todessehnsucht, Alltagssorgen stürzen auf sie ein und werden so gross und beängstigend, dass Christine nicht weiss, wie sie ihr Leben bewältigen soll. Nicht einmal der Schlaf bringt ihr Ruhe und Erholung, alles wird zu einem grauen Brei. 


Gedichte geben ihr Kraft: «Novalis und Hölderlin sind Gleichgesinnte.» (Bild: Alexander Preobrajenski)

«Richtige Mamis gehen nicht weg»

Christine merkt, dass die Stimmen sie beherrschen und ihr Zustand bedrohlich wird. Sie bittet ihren Mann: «Fahr mich in die Klinik.»

Acht Wochen später kehrt Christine nach Hause zurück, die Tage verbringt sie in einer Tagesklinik, die ihr die notwendige Struktur geben. Irgendwann gibt der Psychiater ihren Dämonen einen Namen: Schizophrenie. 

Menschen mit Schizophrenie hören Stimmen, haben Wahnvorstellungen und leiden oft unter Ängsten und Gefühlsschwankungen. Die Ursache ist nicht geklärt, es gibt Medikamente, die auf den Stoffwechsel im Gehirn wirken, aber nur ein Drittel der Patienten wird geheilt.

Daheim in der Familie ist es für Christine schwierig, sie fühlt sich von ihren Kindern eingeengt und beschliesst, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Der Sohn ist sechs Jahre alt, er sagt: «Blöde Mami.» Die Tochter, vier Jahre alt, realisiert nicht recht, was passiert. Jahre später wird sie ihre Mutter fragen: «Bist du wirklich mein Mami? Richtige Mamis gehen nicht von ihren Kindern fort, richtige Mamis bleiben bei ihren Familien.» In einem Wortgefecht antwortet Christine: «Vielleicht musst du dir ein anderes Mami suchen, eines, das gesund ist.»

Wieder alle an einem Tisch

Christine bleibt sieben Jahre in der eigenen Wohnung. Dann beschliesst ihr Mann Thomas sich früh pensionieren zu lassen und spricht einen Wunsch aus: «Ich möchte, dass wir alle wieder zusammen an einem Tisch sitzen.» Christine zieht zurück zu ihrer Familie.

Die Dämonen kommen mit. Christine kämpft gegen sie an, es ist eine Herausforderung ihre Lebensfreude zu erhalten. Doch kleine Oasen helfen ihr dabei: Das Geigenspiel, die Gartenarbeit und das Schreiben. Christine schreibt Gedichte und veröffentlicht ein Buch über ihre schwierige Zeit, es heisst: «Mein Leben mit Psychose» (Omino Verlag).

Der Bodenständige

Thomas Kuhn kennt keine Dämonen. Über Christines Probleme sagt er: «Meine Frau ist psychisch erfahren.» Das klingt positiver als: «Sie ist psychisch krank.» Wir treffen uns im Zentrum für Selbsthilfe Basel. Thomas und Christine Kuhn wollen ihre Geschichte erzählen in der Hoffnung, andere Paare zu finden, die mit ähnlichen Sorgen kämpfen. Den Sorgen, die man hat, wenn ein Partner psychisch krank ist. «Man fühlt sich so anders als alle anderen», sagt Christine, «es wäre tröstlich zu wissen, dass andere Leute Ähnliches durchmachen.»


Seine Welt sind das Wandern, das Singen oder das Kartenspielen. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Selbsthilfe: Eine Erfolgsgeschichte
Menschen, die in einer schwierigen Situation stecken, fühlen sich oft alleine und von ihrem Umfeld unverstanden. Es kann sehr heilsam sein, sich mit Leuten auszutauschen, die Ähnliches erleben. Das ist der Sinn und Zweck von Selbsthilfegruppen (SHG): Betroffene unterstützen sich gegenseitig, hören zu und geben Tipps.
Die Geschichte ist ein riesiger Erfolg: Seit 1992 ist die Zahl der schweizweiten Selbsthilfegruppen (inkl. Fürstentum Liechtenstein) von 834 auf über 2000 gestiegen.

Das Ziel der beiden ist, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Thomas ist bereits in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von psychisch Kranken. Dort dreht es sich vor allem darum, wie es ihm als Ehemann geht. «Das ist sehr hilfreich, aber ich möchte noch mehr hören, wie Paare zusammen klarkommen.»  

Ein Haushalt, zwei Leben

Christine und Thomas sind seit 20 Jahren verheiratet, doch sie leben in vollkommen verschiedenen Welten. Thomas geht gerne wandern, singt im Chor und spielt mit Freunden Karten. «Er steht mit beiden Beinen auf dem Boden», sagt Christine.

Für die Kinder ist das sehr wichtig, der Vater kennt ihre Bedürfnisse. Als die Mutter in die Klinik ging, dachte Thomas nicht lange nach, sondern übernahm die Familienarbeit. «Ich hatte keine andere Wahl, ich musste so handeln.» Klar, die sieben Jahre waren schwierig. Vor allem die Organisation. Er arbeitete zu 100 Prozent und meldete die Kinder im Tagesheim an, «wo sie Gott sei Dank einen Platz fanden». Am Abend war er zu Hause, kochte, brachte die Kinder ins Bett. Wenn er eine Auszeit brauchte, bestellte er sich einen Hütedienst vom Roten Kreuz.

Das war anstrengend, aber Thomas bewältigte die Probleme. 

Sogar, als die Schule ihm den Sohn wegnehmen wollte. Der Knabe war mehrere Male hintereinander zu spät zum Unterricht gekommen, danach machte die Schule eine Gefährdungsmeldung und forderte, ihn in eine Pflegefamilie zu geben, «in eine richtige mit Vater UND Mutter».

Thomas holte sich Hilfe beim Kinderpsychologen, der Sohn wechselte die Schule, konnte beim Vater bleiben. 

Kinder weg, Beziehung weg

Christine ist froh, dass Thomas den Familienalltag so weit organisiert, dass sie sich um die wichtigen Themen gemeinsam kümmern können. Doch sie fühlt sich neben ihm manchmal wertlos. Wenn sie gemeinsam zu Elterngesprächen in der Schule der Tochter gehen, reden die Lehrer nur mit Thomas und ignorieren sie völlig. «Sie wissen, dass ich krank bin, deshalb nehmen sie mich nicht ernst.»

Jetzt wird ihre Beziehung noch mehr auf die Probe gestellt. Christine und Thomas befinden sich an einem Punkt im Leben, mit dem viele Paare hadern: Ihre Kinder sind bald erwachsen und schon fast ausgeflogen. «Sie brauchen uns nicht mehr», sagt Thomas. 

Der Sohn hatte es zwar lange Zeit nicht einfach und brauchte Unterstützung. Er ist 19 Jahre alt und leidet unter einer Form von Autismus. Für ihn ist es deshalb schwierig, sich jeden Morgen dem Alltag zu stellen, er kam öfters zu spät zur Arbeit. Sein Lehrbetrieb entliess ihn aus der Anlehre. Das riss den Sohn in ein tiefes Loch, er wurde lebensmüde und entschied sich selber für den Eintritt in die Psychiatrie. Heute geht es ihm besser: Er lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft und wird immer selbstständiger.

Die Tochter ist 16 Jahre alt und lebt unter der Woche in einem Schulheim. Sie trommelt leidenschaftlich in einer Clique und liebt das Komiker-Duo Almi und Salvi. «Uns findet sie langweilig», sagt Christine. 

Das ist natürlich und gut so, aber den Eltern macht es Angst: Bisher lebten sie zwar in zwei verschiedenen Welten, doch die Kinder hielten sie zusammen. Nun fürchten sie, auf sich selber zurückzufallen, sagt Christine: «Was, wenn wir gemeinsam einsam werden?» Sie verbringen zwar Zeit miteinander, schauen zusammen einen Film, arbeiten im Garten oder gehen gemeinsam essen. Doch der Austausch ist schwierig.

Dichter sind ihr näher

Christine wünschte sich, sie könnte ihre Gefühle und Dämonen mit jemandem teilen. Es ist für sie fast unerträglich, dass Thomas keine dunklen Abgründe kennt. «Ich fühle mich von meinem Mann und der Gesellschaft so unverstanden.»  Sie sucht Trost bei den Dichtern Novalis oder Hölderin: «Die hatten auch solche Todessehnsüchte, sie sind Gleichgesinnte.»

Am wohlsten ist es ihr in der geschützten Werkstatt, in der sie malt oder Gedichte schreibt. Dort kann sie stundenlang schweigen, ohne dass jemand sich daran stösst. «Dort fühle ich mich zu Hause.» Wenn die Dämonen Christine in die tiefste Verzweiflung ziehen, wünscht sie sich, sie wäre allein, ohne Familie.

Für Thomas wiederum ist es schwierig, wenn seine Frau sich zurückzieht. Er hat das Gefühl, sie höre ihm gar nicht richtig zu, «es ist, als ob ich an eine Wand rede». Thomas weiss, das es vielen Angehörigen von Menschen, die «psychisch erfahren» sind, so geht. Christine sagt: «Es ist für mich unverständlich, weshalb er mein Schweigen nicht verstehen kann.» 

Doch Thomas unterstützt seine Frau. So gibt er jedem, den er trifft, einen Flyer von Christines Buch. Ausserdem liest er ihre Gedichte in seiner Selbsthilfegruppe für Angehörige vor. «Die Rückmeldungen aus der Gruppe sind sehr wichtig für mich», sagt Christine.

Thomas und Christine hoffen, dass sie zusammen mit anderen Paaren Antworten auf ihre Fragen finden. Denn eines ist für sie klar: «Eine Trennung kommt nicht infrage. Das wäre zu einfach», sagt Thomas. Die Dämonen sollen nicht siegen. 

Paare gesucht
Christine und Thomas Kuhn möchten eine Selbsthilfegruppe gründen, um sich über ihre Erfahrungen als Paar und Familie mit psychischer Krankheit auseinanderzusetzen. Haben Sie Interesse? Infrage kommen Paare:
– bei denen eine Person psychisch krank, aber nicht in einer akuten Krise ist
– und die Kinder im Teenageralter sind
Bei Interesse melden Sie sich bei:
Selbsthilfezentrum Basel
mail@zentrumselbsthilfe.ch
Tel. 061 689 90 90 

Die TagesWoche setzt sich mit der Psyche auseinander. So viele Leute hadern manchmal mit sich selber, fallen einmal in eine Krise oder erkranken an einem psychischen Leiden, doch niemand redet darüber. Gehören Sie auch dazu, machen Sie eine Therapie? Wir würden gerne mehr über grosse und kleine psychische Leiden erfahren, auch anonym. Melden Sie sich unter andrea.fopp@tageswoche.ch

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