Wer um einen Kredit ersucht, muss zuerst seine Bonität überprüfen lassen. Bis anhin wird dies von Menschen gemacht – doch bald schon könnten Computerprogramme diese Aufgabe übernehmen. «Die schöne neue Welt» lässt grüssen.
Wenn man bei der Bank ein Darlehen haben möchte, etwa für eine Immobilie oder ein neu zu gründendes Unternehmen, ist für gewöhnlich Kredithistorie des Kunden ausschlaggebend. Hat der Antragsteller in letzter Zeit schon einmal einen Kredit aufgenommen? Ist er schuldenfrei? Hat er ein geregeltes Einkommen?
Geht es nach einigen Start-ups, könnten schon morgen Algorithmen entscheiden, ob man einen Kredit bekommt oder nicht. Die Banker könnten beispielsweise danach schauen, ob potenzielle Kunden das Formular nur in Grossbuchstaben ausfüllen oder wie viel Zeit sie damit verbringen, die AGB zu lesen.
Via LinkedIn zum Darlehen
Dies sind nur einige von vielen persönliche Eigenschaften, die das Banking-Start-up Earnest bei der Kreditvergabe berücksichtigt. «Wir haben Tausende Datenpunkte für jeden einzelnen, um ein komplettes finanzielles Bild zu zeichnen», heisst es auf der Website. Earnest vergibt zinsgünstige Darlehen in einem Volumen von bis zu 30’000 Dollar. Das Angebot richtet sich speziell an junge Leute, die einen Studienkredit abbezahlen müssen.
In ein paar Mausklicks kann man den Antrag ausfüllen. Man gibt die Höhe des Darlehens an und den Zeitraum, in dem man es zurückbezahlt. Dann fügt man den Verwendungszweck, etwa eine Hochzeit oder einen Umzug hinzu, zu dem weitere Details genannt werden müssen. Der Clou folgt in Schritt drei: Earnest verlangt von seinen Kunden, sich mit ihrem LinkedIn-Profil einzuloggen. Dadurch erlangt es Zugriff auf das Profil.
Zielgruppengerechte Ansprache: Earnests Angebot.
Diese Daten füttern dann einen Algorithmus, der eine Wahrscheinlichkeit berechnet, mit der der Antragsteller das Darlehen zurückbezahlt. «Earnest untersucht Tausende Datenpunkte, unter anderem die Ausbildung und den Lebenslauf, um zu bestimmen, ob jemand finanziell haftbar ist», teilt das Unternehmen auf Anfrage mit. Wer keinen High-School-Abschluss und Lücken im Lebenslauf hat, bekommt eher keinen Kredit.
Earnest hat bei einer Finanzierungsrunde von mehreren Wagniskapitalgebern 15 Millionen Dollar eingenommen, unter anderem von Andreessen Horowitz, Atlas Venture und Maveron. Wenn Andreessen Horowitz in ein Start-up investiert, gilt das als Beglaubigung einer Geschäftsidee.
Persönliche Daten sollen alles über die Kreditwürdigkeit sagen
Im Silicon Valley entsteht die Zukunft des Kreditwesens. Auch das Start-up Affirm hat hier, in San Francisco, seinen Sitz. 30 Mitarbeiter arbeiten in einem alten Backsteinbau mit hohen Decken. Ins Leben gerufen wurde das Start-up vom Paypal-Gründer Max Levchin.
Affirm verfolgt ein ähnliches Geschäftsmodell wie Earnest: Mit der Auswertung persönlicher Daten soll die Zahlungsfähigkeit der Kreditnehmer exakter eruiert werden. Es ist eine Wette auf die Zukunft. Affirm hat auch einen Online-Zahlungsdienst. In Shopping-Apps kann man Affirm als Zahlungsmethode angeben. Ein Start-up als Währung. Immer mehr Geschäfte akzeptieren diese Zahlungsmethode. Es ist ein Frontalangriff auf Direktbanken. Hinzu kommt, dass der Darlehenszins bei Affirm und Co. niedriger ist als der Überziehungszins von Kreditkarten.
In Shopping-Apps kann man Affirm als Zahlungsmethode angeben. Ein Start-up als Währung…
Die Frage ist nur, ob Algorithmen die Kreditwürdigkeit bestimmen können. Die Experten zweifeln. Peter Fader, Marketingprofessor an der renommierten Wharton School, sagt im Gespräch mit der TagesWoche: «Diese Data-Mining-Herangehensweise ist in den meisten Fällen nicht effektiv. Zufällige Charakteristika der Persönlichkeit sagen kaum etwas über die zukünftige Bonität aus.»
Kritik an der Methodik von Experten
Fader bemängelt die Methodik. «Die Modelle, die zu diesen falsch positiven Ergebnissen führen, ermangeln statistischer Aussagekraft, um wahre von falschen Effekten zu unterscheiden.» Die verzerrten Ergebnisse können wiederum zur Folge haben, dass ein Kreditanwärter wegen seiner religiösen oder ethnischen Herkunft diskriminiert wird. Wer aus einem Problemviertel in New York kommt, hat statistisch gesehen zwar ein höheres Ausfallrisiko als ein Bewohner im noblen Stadtteil SoHo. Doch man darf nicht vom Allgemeinen auf den Einzelfall schliessen. Das lernen schon Studenten in Statistikkursen.
Dass man nicht vom Allgemeinen auf den Einzelfall schliessen darf, lernen schon Studenten in Statistikkursen.
Auf Anfrage teilt Earnest mit, dass die eingespeisten Daten direkt mit der Solvenz zusammenhängen. «In dem Evaluierungsprozess nutzen wir nicht alle zur Verfügung stehenden Daten über einen potenziellen Kunden, etwa die Postleitzahl, die einen diskriminierenden Effekt haben könnte.» Doch wie genau aus dem Datengebräu eine Entscheidung gefällt wird, ist völlig unklar. Es gibt keine transparenten Kriterien.
Verbraucherschutz ist alarmiert
Die Gefahr besteht darin, dass mit so vielen Daten und Komplexität ein automatisches System generiert wird. Die Algorithmen lernen dazu (Stichwort: machine learning) und sind in ihrer Entscheidungslogik kaum ergründbar. Zwar betont Earnest, dass am Ende immer fünf verschiedene Mitarbeiter den Antrag prüfen und gegebenenfalls eine Kreditlinie einräumen. Doch letztlich spurt die Software die Entscheidung vor. Die Verbrauchschutzbehörden in den USA wollen das Geschäftsmodell auf den Prüfstand stellen. Start-ups wie Earnest oder Affirm operieren in einem weitgehend unregulierten Sektor.
Das Interesse ist klar: Die Banken wollen das Ausfallrisiko von Kreditlinien minimieren.
Grossbanken interessieren sich immer mehr für computergenerierte Rating-Systeme. Laut einem Bericht des «Wall Street Journal» stehen die Investmentbank Morgan Stanley, die Bank of America, Merrill Lynch sowie Deutsche Bank in Gesprächen mit dem New Yorker Start-up OnDeck, das ebenfalls einen Algorithmus zur Bestimmung der Kreditwürdigkeit entwickelt hat. Das Interesse ist klar: Die Banken wollen das Ausfallrisiko von Kreditlinien minimieren. Wer künftig ein Darlehen haben möchte, sollte vielleicht besser zu einer genossenschaftlichen Bank gehen – oder am besten gar keine Daten von sich preisgeben.