Nach der intelligenten Uhr kommt jetzt die kommunizierende Kleidung. Mit schlauen Strümpfen und smarten Shirts sollen Leistungsdaten optimiert werden. Datenschützer orten grosses Missbrauchspotenzial.
Smartphones, Autos, Kühlschränke – immer mehr Dinge in unserem Alltag sind vernetzt. Das Internet der Dinge rückt mit Siebenmeilenstiefeln näher. In Zukunft werden auch Kleider mit Sensoren ausgestattet sein. Smart Clothing lautet das Stichwort, Textilien mit integrierter Elektronik.
Der Modehersteller Ralph Lauren hat beim Tennisturnier US Open die Balljungen mit einem «Tech Polo» ausgestattet. Das eng anliegende Shirt sieht auf den ersten Blick wie ein konventionelles Kleidungsstück aus. Die Besonderheit: In den Stoff sind ein kleiner Sensor und Leitfäden eingenäht, die Puls, Atmung und Stresslevel messen. Die biometrischen Daten können via Bluetooth mit einem Gerät ausgelesen und auf dem Smartphone abgerufen werden.
Zusätzliches Gewicht soll der Träger durch die sogenannte Wearable-Technologie nicht spüren. «Nichts Klobiges, das du umhängen musst», sagte David Lauren, der Werbechef von Ralph Lauren. «Du ziehst einfach nur ein Shirt an.» Es klingt banal. Doch dahinter verbirgt sich eine bedeutende strategische Weichenstellung. Mit dem Fitness-Tracking–T-Shirt ist nun auch die Modebranche in den Wearable-Markt eingestiegen.
«Durchatmen», rät das Hemd
Der Markt boomt. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte schätzt, dass 2020 rund 100 Millionen Fitness-Tracker und andere Gadgets auf dem Markt sein werden. Sensorenkleider werden Fitness-Trackern den Rang ablaufen, prognostiziert das Marktforschungsunternehmen Gartner. «Weil Smartshirts und andere smarte Kleidungsstücke mehr Sensoren an die Haut halten, können sie mehr Informationen und mehr Daten sammeln», erklärte Gartner-Forschungsleiterin Angela McIntyre gegenüber dem «Guardian».
Das kanadische Unternehmen OMsignal, das als Vorreiter der Technik gilt und mit dem Ralph Lauren kooperiert, hat bei einer Finanzierungsrunde zehn Millionen Dollar Kapital eingenommen. «Smarte Kleidung wird durchdringender und ein normaler Aspekt im Leben der Verbraucher sein», prophezeit OMsignal-Mitbegründer Stéphane Marceau. Auf einem Herstellervideo ist ein Geschäftsmann zu sehen, dessen Stresslevel im roten Bereich ist. «Tief durchatmen», rät das smarte Hemd, und der Stresslevel pendelt sich wieder ein. Die Kleidung wird zum Anti-Stress-Therapeuten.
Im Moment ist der Markt noch relativ überschaubar. Neben smarten T-Shirts gibt es schlaue Strümpfe und Schuhe. Das US-Start-up Sensoria hat spezielle Socken entwickelt, die Schrittzahl, Geschwindigkeit und Kalorienverbrauch aufzeichnen. Ein um den Fussknöchel getragenes Auswertungsband, das wie eine Fussfessel aussieht, funkt die Daten via Bluetooth an Geräte. Die eingenähte Sensorik erfasst zudem die Laufkadenz und den Fussauftritt. So soll sich beim Joggen erkennen lassen, ob man fehlerhaft abrollt. Ganz billig ist das Vergnügen nicht: Vier smarte Socken kosten 200 Dollar. Wie das funktioniert, zeigt das Werbevideo:
Der finnische Hersteller Myontec fertigt Radlerhosen mit integrierten Sensoren, die die Muskelkontraktionen der Oberschenkel messen. Die Produkte sind primär für Profisportler bestimmt, die mit der Auswertung von Daten ihre Leistung optimieren wollen. Doch die Hersteller haben längst die Masse im Blick. Die Modekette Benetton plant RFID-Etiketten, kleine Chips, in seine Kleidungsstücke einzunähen.
Versicherungsrabatt gegen Lifestyle-Daten
Jeremy Malcolm, Aktivist bei der NGO Electronic Frontier Foundation in San Francisco, die sich für Grundrechte im Digitalzeitalter einsetzt, sagt auf Anfrage: «Obwohl die RFID-Technologie sehr nützlich sein kann, Dinge nachzuverfolgen, etwa bei der Verschiffung von Gütern, müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir sie in Kleidungsstücke einnähen. Selbst wenn die Hersteller dieser Produkte nicht beabsichtigen, ihre Kunden zu verfolgen, können RFID und andere Chips von Dritten verfolgt werden – Kriminelle und Regierungen eingeschlossen.» Jawbone, Hersteller des Fitness-Armbands Up, weiss aufgrund der Daten, wo die Nutzer am spätesten ins Bett gehen (in Brooklyn). Daraus lassen sich wiederum Rückschlüsse auf Alltagsgewohnheiten ziehen.
Als erster grosser Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Die Versicherten erhalten Gutscheine und Rabatte, wenn sie gesund leben. Der Preis für eine bessere Police: Daten. Wenn die smarte Kleidung erhöhte Stresslevel und wenig Bewegung registriert, könnte das die Verbraucher teuer zu stehen kommen. Wer zu viel schwitzt und sitzt, zahlt drauf.
Sensorenkleider sind längst auch in der Schweiz ein Thema. Die ETH Zürich konzipiert in Zusammenarbeit mit der Schweizer Textilfachschule eine Kleiderkollektion, in der drahtlose Kommunikationskomponenten in die Kleidung integriert werden sollen. «Für die kommenden Jahre könnten im Bereich Gesundheit erste Produkte marktreif werden», sagt Professor Gerhard Tröster, Direktor des Electronics Laboratory. «Als Forschungsinstitution produzieren wir aber keine Kleider, sondern explorieren Technologien, die für Textilien nutzbar sein können.» Den ETH-Elektroingenieuren gelang es bereits 2010, Mikrochips in die textile Architektur von Stoff zu integrieren.
Im Gegensatz zur Smart Watch müssen E-Textilien nicht extra um den Körper geschnallt werden – man trägt sie so oder so.
Im Rahmen des EU-Projekts «SimpleSkin» forscht die ETH Zürich mit anderen Hochschulen (etwa der Universität Stuttgart) an neuen Ansätzen für die Produktion von smarten Textilien und Funktionsbekleidung. Beispielsweise mit einem T-Shirt aus speziellen, mit integrierten Sensoren gewebten Stoffen, das die Vitalfunktionen seines Trägers permanent erfasst und an ein Smartphone überträgt. Die Parameter könnten von einer App ausgewertet und verarbeitet werden, um vor Überanstrengung, zu grosser Stressbelastung oder falscher Sitzhaltung zu warnen.
«Auf lange Sicht könnte sich diese funktionale Kleidung als Standard etablieren, vergleichbar mit sensorfähigen Mobiltelefonen, die heute bereits zur Alltagskultur gehören», heisst es in einer Pressemeldung des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), das an dem Projekt beteiligt ist. «Insbesondere wird es so möglich, das von Smartphones bekannte App-Konzept auf Kleidungsstücke zu erweitern und so eine Fülle neuer Anwendungen zu schaffen.» Das Ziel ist kommunizierende Kleidung.
Tröster sieht darin kein Datenschutzproblem. «Im Vergleich zu anderen Systemen wie Smartphone oder Google-Abfragen entstehen wenige Daten», behauptet er. Gleichwohl: Die Sensorenkleider stehen in ständigem Austausch mit Smartphones. Und wo Daten anfallen, besteht auch immer die Gefahr, dass sie in grossem Stil aufgefangen und ausgewertet werden.
Tech-Giganten am Puls der Menschen
Längst interessieren sich auch Internetkonzerne für smarte Kleidung, besser gesagt: für Daten. Intel hat in Zusammenarbeit mit dem taiwanesischen Unternehmen AIQ ein smartes Shirt entwickelt, das Herzschlag über Bluetooth oder Wi-Fi an Smartphones weiterleitet. Die Tech-Giganten fühlen am Puls der Menschen. In einer anderen Variante könnte auch ein 3G-Chip eingebaut werden, ähnlich dem eines Smartphones, der Daten über Cloud streamen könnte.
Der Aktivist Jeffrey Chester vom Center for Digital Democracy nennt mobile Geräte das «digitale trojanische Pferd für die Privatsphäre». Im Gegensatz zur klobigen Smart Watch müssen E-Textilien nicht extra um den Körper geschnallt werden – man trägt sie so oder so.
Die nächste Entwicklungsstufe der tragbaren Elektronik sind Elastomer-Pflaster, mit dem sich Muskelaktivität, Herzschlag oder Hirnströme messen lassen. Das US-Start-up MC10 hat ein solches Produkt bereits auf den Markt gebracht. Das Substrat legt sich wie eine zweite Haut über den menschlichen Körper. Der gläserne Mensch nimmt immer stärker Konturen an.