Basler Studierende vertreiben universitäre Langeweile mit einer App namens Jodel. Sie bietet ein lokales soziales Netzwerk, in dem jeder seine Gedanken ausplaudern kann. Anonym, flüchtig, schnelllebig. Damit deckt sie ein Bedürfnis der Generation Smartphone ab, das Facebook nicht befriedigen kann – und ist entsprechend beliebt.
Die Schweizer Jugend jodelt. Unter den Jodlerinnen und Jodlern finden sich mehrheitlich Studenten, und diese jodeln mit einer Inbrunst und Leidenschaft, wie sie sich die Dozierenden für ihren Unterricht nur erträumen können. Die Rede ist hier nicht vom volkstümlichen Alpenjodel. Gemeint ist die App des Berliner Start-ups tellM Gmbh.
Die Anwendung funktioniert folgendermassen: Die Nutzer verfassen anonym kurze Beiträge (im Fachjargon «Jodel» genannt), die auf einer Timeline angezeigt werden und für andere Jodlerinnen und Jodler im Umkreis von zehn Kilometern sichtbar sind. Diese können die Beiträge bewerten. Besonders beliebte Jodel schaffen es in eine Hall of Fame, unbeliebte werden nicht mehr angezeigt. Für jede positive Stimme aus der Community erhält man Karmapunkte, sogenannte Brownies. Ein Spielmechanismus, der zu Höchstleistungen anspornt – und süchtig macht.
Wer negativ auffällt, verliert seinen Account
Durch dieses System moderiert sich die Community weitgehend selbst. Rassistische oder beleidigende Beiträge haben in der Regel keine Chance. Zudem gibt es die Funktion «melden». Wird ein Nutzer häufig wegen Verletzung der Jodel-Netiquette gemeldet, führt dies zur Sperrung seines Accounts.
Anonymität und Flüchtigkeit machen den Reiz dieser App aus. Kleine Beobachtungen im Alltag, seltsame Ideen, sinnlose Gedanken und Scherze werden in die Welt hinausgepustet, um ein paar Stunden später wieder spurlos zu verschwinden. Digitaler Small Talk. Die Entblössung geheimer Gedanken hat keine Konsequenzen. Eine Wohltat in einer Welt, die von Selbstdarstellern auf Facebook und Instagram dominiert wird, deren Profile perfekt durchkomponiert sind.
Ob die Geschichten auch wahr sind, ist nebensächlich, frei nach dem Motto «se non è vero, è ben trovato». So ergibt sich in der Gesamtheit eine faszinierende Ansammlung von Gedanken, und in einem Meer aus Nonsens wartet die eine oder andere Perle.
Anekdoten aus dem alltäglichen Leben erfreuen das Jodlerherz.
Basler jodeln im Allgemeinen fair und solidarisch
Anfang Semester wurden vor der Uni Basel im Zuge einer Promo-Aktion Flyer verteilt, um die Studenten auf Jodel hinzuweisen. Die Aktion war erfolgreich: Fast im Minutentakt erscheinen derzeit neue Jodel in der Timeline. Knapp einen Monat nach Semesterbeginn hat sich die TagesWoche umgehört, um zu erfahren, wie viele Studenten die App wirklich nutzen – und was sie davon halten.
Vor der Juristischen Fakultät treffe ich auf Roger und Andreas. Andreas ist Gelegenheitsjodler, Roger hat die App bereits wieder vom Handy gelöscht. «Mir wurden diese Jodel irgendwann zu dumm», winkt er ab. Als ich wissen will, warum, erklärt er: «Weil sich da Leute permanent über ihre Dozentinnen oder Kommilitonen lustig machen. Das geht meiner Meinung nach schon in Richtung Cyberbullying.»
Daran, so sein Kollege Andreas, erkenne man auch, dass mehrheitlich Erstsemestrige hinter Spott-Jodels stehen. «Da geht es um die Dozenten, die jährlich die Einführungskurse leiten. Ältere Semester würden sich nicht so über Dozierende äussern.» Trotzdem sei Jodel eine lustige Idee: «Ein guter Zeitvertreib, wenn es einem langweilig ist. Und die Jodel-Community in Basel erlebe ich als ziemlich fair und solidarisch. Da werden diskriminierende Jodel schnell weggevotet.»
Die Jodelpolizei achtet darauf, dass in der Vorlesung aufgepasst wird. Wer die Ironie bemerkt, erhält einen Bonus-Credit dieses Semester.
Sie wollen ja bloss spielen
Jodel haftet bei der reiferen Studentenschaft das Stigma an, uncool zu sein. Wohl deshalb erklären mir viele der Älteren ums Kollegienhaus und in der Unibibliothek halb rechtfertigend, halb belustigt, dass sie zwar von der App gehört und sie ausprobiert hätten, sie aber nicht regelmässig nutzen würden.
Vor dem Bernoullianum treffe ich eine Gruppe Psychologie-Erstsemestler bei der Zigarettenpause. Jan, Daniele und Tamara geben bereitwillig Auskunft. Die App sei eine «nette Ablenkung», sagt Daniele. Sie sähen kein Problem mit Beleidigungen, da, so Tamara, «schliesslich alles nur Spass ist. Jeder ist sich dessen bewusst, der hier mitmacht.»
Als ich wissen will, ob es die drei störe, wenn Jodler die App nutzen, um andere zu trollen, meint Jan nur: «Nein, ich benehme mich dort ja selber daneben.» Das ist eine Einschätzung, die ich noch oft zu hören bekomme: «Ein nicht ganz ernstzunehmender, grosser Spass, der die Studenten an der Uni enger zusammenschweisst.»
Anders sieht das Muriel, Studentin der Kunstgeschichte kurz vor dem Bachelor. «Anfangs war es ja noch lustig. Aber irgendwann letzte Woche hat mich das Ganze angefangen zu nerven. Eine Gruppe besonders Lustiger meinte, den ganzen Tag den Feed mit Jodel über Puffs und Mäntel zuspammen zu müssen. Da hab ich die App wieder gelöscht. Das Ganze ist mir viel zu wenig moderiert.»
Jodler-Kategorien
Die Meinungen sind geteilt. Darum wollte ich mir bei einem Selbstversuch selber ein Bild davon machen, was die Jodel-App so kann. Was ich fand, war eine wilde Collage aus lustigen, manchmal verstörenden, kindischen, nervenden Beiträgen. Eines war es jedoch nie: langweilig.
Anbei eine Übersicht über die prominentesten Jodler-Typen, die ich identifizieren konnte. Eine Orientierungshilfe für Jodel-Neulinge.
» Die Kantönli-Patrioten
Baslerinnen und Basler sind stolz auf ihren Dialekt, das merkt man auch auf Jodel. Deutsch hat es schwer, Englisch ist so gut wie chancenlos. Der geistige Röstigraben ist tief auf Jodel. Tipp für angehende Jodlerinnen und Jodler: Herbstmesse, Rhein oder Liebeshymnen an die Stadt kommen gross an, auch Züri-Bashing funktioniert immer. Als Beispiel ein Jodel aus eigener Feder. Dabei haben die Dialekt-Rassisten noch nicht einmal gemerkt, dass sie einer Undercover-St.-Gallerin auf den Leim gegangen sind. #hähä #brodworscht #hueregeil
» Die 9Gag-Plagiatoren
Sie haben immer die lustigsten Sprüche parat beziehungsweise im Netz gefunden. Meist muss man diese dann fünf- bis zehnmal pro Tag lesen, da auch andere Jodler auf die Idee kommen, 9Gag, 4Chan oder Reddit zu konsultieren. Wie immer an der Uni gilt auch hier: Plagiat = Fail. Die plumpsten Abschreibeversuche werden in der Regel enttarnt und gnadenlos aus der Timeline gevotet.
Zu den 9Gag-Jodlern zählen auch die unkaputtbaren «Dr Momänt, wo…»-Jodler. Egal, wie verhasst die Phrase ist, ansteckend ist sie allemal!
Ein Moment ist ein Moment ist ein Moment ist…
» Die Vorlesungs-Protokollierer
Diese Exemplare findet man in der Jodel-Community am häufigsten unter den Erstsemestrigen. Frisch vom Gymnasium, zum ersten Mal raus aus dem betreuten Wohnheim bei Mutti und ab an die Uni in der fremden Stadt. Drückt man ihnen ein Smartphone in die Hand, verfassen die fleissigen Studenten Protokolle über Witze, Marotten und Entgleisungen ihrer Dozenten und Kommilitonen. Hier ist es ähnlich wie bei den 9Gag-Plagiatoren: Ein und derselbe Schwank wird mindestens zehn Mal pro Vorlesung in den Äther gejodelt. Erstaunlicherweise hält er sich dann aber auf der Timeline.
Wenn Daniela bloss nicht herausfindet, dass du geschwänzt hast!
» Die Umfrage-Starter
Das Schöne ist: Jodel bietet die Möglichkeit, völlig anonym Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens zu suchen und zu finden. In der Anonymität fallen die Hemmungen, man traut sich, Dinge zu fragen, die selbst Dr. Sommer rot im Gesicht werden liessen. Egal, ob es um Ausgehtipps, Restaurantempfehlungen, Fragen zu gesellschaftlichen Normen oder die Selbstbefriedigungsgewohnheiten der Mit-Jodler geht: Jodler helfen Jodlern.
In Liebesdingen einfach Jodel konsultieren – da wird Ihnen geholfen.
» Die Drive-by-Jodler
Dieser Jodler ist ein wahrer Könner. Er verlangt höchste Präzision und minutiöse Planung im Voraus. Wer als Pendler schon immer einmal sagen wollte, was er an einer Stadt mag oder was er von ihren Bewohnern hält, kann das Jodel sei Dank ganz anonym im Vorbeifahren machen. Einfach im richtigen Moment die App refreshen und einen Drive-by-Jodel raushauen. Zum Beispiel in Olten.
Im Vorbeifahren abgeschossen: keine Liebe für Olten.
» Die Foto-Jodler
Die Bilder, welche die Nutzer der App hochladen, zeigen zu gefühlt 95 Prozent Mahlzeiten. Meistens Pizza. Oft mit der lustigen Bildbeschriftung: «An alli Jodler: Er sin alli yglade, s’het solangs het.» Wahrsagerinnen und Gedankenleser sind hier klar im Vorteil, aufgrund der Anonymität der App muss man die Adresse der Einladung nämlich erraten oder auspendeln. Dieser Foto-Jodel stammt aus der Ostschweiz, wo der Winter bereits angebrochen ist und der Härteste der harten Kerle dem ersten Schnee trotzt.
» Die Trolle
Trolle schliesslich sind niedere Kreaturen, die mit provokativen Aussagen und Posts wütende und entrüstete Reaktionen hervorrufen wollen. Am wohlsten fühlen sie sich in einem anonymen Umfeld, wo sie ihre primitiven Neigungen ungehemmt ausleben können. Sie treten einzeln oder in Gruppen auf. Die Trolle auf Jodel verfolgen das Ziel, allein zum eigenen Amusement ihren Mitmenschen das Jodel-Erlebnis zu vermiesen.
Trolle machen den ernsthaften Jodlern das Leben schwer.