Tod eines thrakischen Sängers

Das gewaltsame Ende des thrakischen Musikers Orpheus war ein beliebtes Bildmotiv und schrie schon in der Antike nach einer Erklärung.

Gewaltdarstellung aus dem 5. Jahrhundert vor Christus.

(Bild: Antikenmuseum Basel)

Das gewaltsame Ende des thrakischen Musikers Orpheus war ein beliebtes Bildmotiv und schrie schon in der Antike nach einer Erklärung.

Die Szene ist schockierend. Sieben Frauen erschlagen einen Mann auf äusserst brutale Weise. Eine von ihnen hat ihm einen Bratspiess in den Oberschenkel gerammt, eine andere ist dabei, einen Felsblock auf ihn zu schleudern, eine dritte stürzt sich mit einer Mörserkeule auf ihn, und eine vierte stösst ihm ein Schwert in den Hals. Drei weitere schwingen ein Beil oder einen Spiess.

Zu sehen ist die Szene auf einem griechischen Weingefäss, das um 470/460 v. Chr. hergestellt wurde. Es stammt höchstwahrscheinlich aus einem Grab in Süditalien oder Etrurien und ist zurzeit in einer Ausstellung der Skulpturhalle Basel zu Gast.

Das Opfer der sieben ist Orpheus. Wir erkennen ihn an der Leier. Die Figur des thrakischen Sängers steht im Zentrum mehrerer antiker Mythen. Oft klingt in ihnen ein tragischer Ton an.

Gang in die Unterwelt

Tod und Verlust überschatten denn auch Orpheus‘ Liebe zu Eurydike. Die glückliche Zeit  der beiden findet ein jähes Ende; im Gras einer Blumenwiese lauert eine giftige Schlange und beisst die nichts Böses Ahnende in den Fuss. Sie stirbt.

Orpheus ist untröstlich. Er steigt hinab in die Unterwelt, um Eurydike vom Totengott Pluto zurückzufordern. Pluto – wie der Rest der Unterwelt gerührt von Orpheus‘ Gesang – gestattet  Eurydike die Rückkehr in die Oberwelt. Allerdings darf Orpheus während des Aufstiegs niemals zu Eurydike zurückschauen. Als er es trotzdem tut, verliert er sie für immer.

Woher dieser Hass?

Wer sind die Frauen, die Orpheus derart brutal ermorden, und was treibt sie an?

Eine Tätowierung am Unterarm der einen (auf unserem Bild nicht zu sehen) weist sie als Thrakerin aus. Damit gehören die Mörderinnen nach griechischer Auffassung zu einem Volk am Rande der Zivilisation. Hinweise auf das Tatmotiv bietet die Darstellung keine.

Wer mehr darüber in Erfahrung bringen möchte, muss sich in die verstreuten schriftlichen Quellen der Orpheus-Mythen vertiefen. Dabei stösst er auf unterschiedliche Antworten.

Orpheus, der auch als Stifter von Mysterien gilt, habe den Zorn des Dionysos auf sich gezogen, lautet die eine Erklärung. Dies, weil er die Sonne als Gottheit verehrte und Apollo über Dionysos stellte. Darauf habe Dionysos seine Anhängerinnen auf ihn losgelassen.

Andere Quellen gehen davon aus, dass Orpheus die Frauen gegen sich aufbrachte, weil er sie von den Mysterien ausgeschlossen oder weil er ihnen mit seinem Gesang die Männer abspenstig gemacht habe.

Bestrafung eines Weichlings?

Eine ziemlich eigenwillige Erklärung für die brutale Tat findet sich in Platons Dialog «Das Gastmahl», der im Jahr  416 v. Chr. spielt, allerdings erst Jahre später geschrieben wurde. Darin lässt Plato den Athener Phaidros eine Rede über das Wesen der wahren Liebe halten.

In ihr führt Phaidros unter anderem aus, der «Leierspieler» Orpheus  sei in den Augen der Götter ein weichlicher Typ gewesen. Er sei nicht tapfer genug gewesen, als Beweis seiner Liebe den Tod auf sich zu nehmen und so wieder mit Eurydike vereinigt zu werden, sondern sei lebendigen Leibes in die Unterwelt gegangen. Die Tötung Orpheus‘ durch eine Schar Weiber sei eine Strafe der Götter gewesen. Dass der Sänger von Frauen bestraft wurde, dürfte von Phaidros wohl als verdiente Demütigung angesehen worden sein.

In Phaidros‘ Ausführungen steckt implizit die Warnung: Männer, hütet euch davor, weichlich zu werden wie Orpheus, das kommt schlecht heraus.

Indiz verdrängter Ängste?

Ist dies auch die Botschaft des Weingefässes? Orpheus geht hier alles Kriegerische, Kämpferische ab. Gut möglich, dass männliche Betrachter in ihm wie Phaidros einen verweichlichten Musiker sahen, dem es ganz recht geschah.

Und welche Empfindungen lösten die mordenden Frauen bei antiken Betrachtern aus? Hätten die alten Griechen mit der Bemerkung, dass es sich bei diesen Thrakerinnen höchstwahrscheinlich um die Ausgeburten verdrängter männlicher Ängste handle, etwas anfangen können?

Möglicherweise würden sie uns einfach entgegnen, der Maler habe seine Sache gut gemacht und im Übrigen sei das halt so ein Sagenmotiv.

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Die Ausstellung «Grenzenlos grausam? Bilder der Gewalt in der antiken Welt» der Skulpturhalle Basel dauert bis zum 29. Januar 2017. Zur Ausstellung gibt es ein Rahmenprogramm mit Workshops und einer Vortragsreihe.

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