Paula Birrer wird 108 Jahre alt. Seit 68 Jahren lebt sie im selben Haus, seit 58 Jahren ohne ihren Ehemann. Die älteste Baslerin blickt auf ein schönes Leben zurück, sagt sie.
Die drei Meter lange Strecke von der Küche bis zum Wohnzimmer sind zur täglichen Härteprobe geworden für Paula Birrer. Nur schleppend kommt sie mit dem Gehwagen voran. «Trallala! Hier bin ich», sagt sie und nimmt vorsichtig auf dem Holzstuhl Platz. Dass sie heute Sonntag bereits 108 Jahre lang «hier» ist, hätte sie nicht für möglich gehalten. «Schon in der Nacht auf meinen 100. Geburtstag dachte ich, dass ich in den nächsten Stunden sterben werde.»
Birrer spricht Baseldeutsch der alten Schule. Sie legt viel Wert auf ihr Erscheinen. Ihre weissen Haare hat sie perfekt hochgesteckt, über der beigen Strickjacke und dem altrosaroten Hemd trägt sie eine Bernsteinkette. Vergisst sie eine Jahreszahl, was selten vorkommt, macht sie sich Vorwürfe und entschuldigt sich mehrmals mit Sätzen wie «Ich hätte heute nicht mit der Lupe Zeitung lesen dürfen, jetzt bin ich durcheinander» oder «Es ist schlimm mit mir».
Über ihr hohes Alter macht sich Paula Birrer nicht viele Gedanken. Ihr Dasein empfindet sie nicht als anstrengend, obwohl sie starke Schmerzen in den Knien hat, darum in ihren vier Wänden gefangen ist, und keine Verwandte mehr hat. «Das Leben darf keine Belastung sein.» Einmal war es trotzdem so. Seit 68 Jahren lebt die Frau in ihrem kleinen, idyllischen Häuschen im Hirzbrunnen-Quartier. Mehr als ihr halbes Leben verbringt sie schon ohne ihren Mann Fritz, den sie bei der Arbeit in der Sandoz kennenlernte und 1929 als 24-Jährige heiratete. Er fehlt ihr, wie im Gespräch immer wieder herauszuhören ist.
Führerschein mit 59
1955, zehn Jahre nachdem das kinderlose Paar das Haus bezogen hatte, starb Fritz an einer schweren Krankheit. «Sein Hinschied tat unglaublich weh», sagt die älteste Baslerin und schweigt eine Weile. Erschwerend kam hinzu, dass kaum drei Wochen später ihre Mutter starb. «Das war eine schwierige Zeit, die ich fast nicht überwinden konnte. Ich war derart kaputt. Jä nu.» Es fällt ihr schwer, ausführlich über dieses Kapitel zu sprechen.
Nach seinem Tod holte Birrer etwas nach, das ihr Fritz nicht mehr beibringen konnte: «Als er im Krankenhaus war, sagte er mir, dass er mir in unserem Auto Fahrstunden geben würde, wenn er wieder zu Hause ist. Dann starb er – ich wollte es aber trotzdem lernen.» Als sie mit 59 schliesslich ihren Führerschein in den Händen hielt, fuhr sie direkt ans Grab ihres Mannes. Von diesem Tag an düste sie ständig mit dem Auto in der Gegend herum. Sie habe das Autofahren geliebt, sich frei gefühlt dabei. Mit 80 habe sie jedoch wegen Augenproblemen damit aufhören müssen.
Aufgewachsen ist Paula Birrer im Hegenheimer-Quartier und im St. Johann. Drei Brüder hatte sie, noch immer in besonders guter Erinnerung hat sie ihren acht Jahre jüngeren Bruder Paul. «Nie werde ich den Tag vergessen, als mein Vater mit Pauli im Arm kam. Ich mochte ihn sehr und habe viel Zeit mit ihm verbracht.»
Kochen geht noch
Nach der obligatorischen Schulzeit besuchte sie einen Nähkurs. An einem Abend kam sie aber so spät nach Hause, dass ihr Vater ihr verbot, den Kurs weiterzuführen. Eine Untersagung, die sie ihm heute noch übel nimmt. «Er hat es mir verdorben. Ich musste dann zu Hause arbeiten», sagt sie.
Gearbeitet hat Paula Birrer einiges in ihrem Leben. Unter anderem als Dienstmädchen, Verkäuferin in der Confiserie- und Modeabteilung des Globus oder als Zahnpastaherstellerin. Nach dem Tod ihres Mannes arbeitete sie intensiv im Garten. Heute kann sie nur noch dem Gärtner dabei zusehen. «Es macht mich traurig, das Unkraut sehen zu müssen, aber mich nicht bücken zu können. Ich würde gerne noch jätten können.» Hin und wieder schafft es Birrer aber immerhin noch zu kochen – etwa Kartoffelstock mit Gehacktem oder Flädlisuppe.
Mehr liegt nicht drin. Sie wolle nicht klagen, sie habe ein schönes Leben, sagt sie. «Und das Schönste daran waren das Autofahren und mein lieber Ehemann.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 29.03.13