Überforderung, Burn-out oder Berufswechsel – Basels Betreuerinnen sind am Anschlag

Basler Eltern können zufrieden sein mit dem Betreuungsangebot für ihre Kinder. Die jungen Frauen oder Männer, die dort arbeiten, sind es weniger. Doch die Regierung will nichts von schlechten Arbeitsbedingungen wissen.

Manchmal sehen sie vor lauter Aufgaben das Kind nicht mehr: Kita-Angestellte ächzen unter zunehmender Belastung.

(Bild: Illustration: Eva Rust)

Als Sandra Müller (Name geändert) ihr Praktikum in einem Basler Tagi anfing, wusste sie: Das ist genau der richtige Job. «Ich liebe die Arbeit mit Kindern. Sie ist zwar anstrengend, aber sie gibt dir so viel zurück.» Nach dem Praktikum fing Müller deshalb eine Lehre in der Tagesstätte an.
Müller hatte, wie es Lehrfrauen zusteht, eine Ansprechperson, die ihr Aufgaben stellte, sie bei Fragen unterstützte und ihr Feedback gab. Alles war gut, doch dann drehte der Wind: Das Tagi erhielt eine neue Leiterin. Diese war überfordert, das Chaos brach aus, alle waren gestresst, zwei Personen erkrankten an einem Burn-out und fielen aus.

Die Folge: Müller musste ganze Nachmittage alleine mit sieben Kindern zwischen fünf und dreizehn Jahren verbringen. Und das im ersten Lehrjahr. «Ich war total überfordert, die Bedürfnisse der Kleinen und der Grossen gleichzeitig zu erfüllen», sagt sie.

Auf sich alleine gestellt

Eigentlich ist das unzulässig. Gemäss den Richtlinien für Tagesheime muss auf fünf Kinder mindestens eine Betreuungsperson vor Ort sein, ab zehn Kindern muss zwingend eine Betreuerin oder ein Betreuer mit Ausbildung da sein.

Müller aber war alleine. Und die Situation wurde schlimmer: Ihre Ansprechperson kündigte, sie erhielt zwar eine neue, doch auch diese kündigte bald und die nächste auch. «Ich hatte innerhalb eines Jahres fünf Ansprechpersonen», sagt Müller, «niemand in der Kita hatte noch den Überblick über meine Ausbildung.»

Eines Nachts hatte Müller einen Zusammenbruch. Sie konnte nicht schlafen und hatte einen Hörsturz. Sie blieb vier Wochen daheim, dann wechselte sie den Lehrbetrieb. Dort wurde es ein bisschen besser, aber auch da kamen und gingen die Angestellten, kündigten nach und nach, niemand war richtig für Müllers Lehrbetreuung zuständig. «Meine Ausbildung war ein Fiasko», sagt sie im Rückblick. Dass sie bis heute in einer Kita arbeitet, hat einen simplen Grund: «Die Arbeit mit den Kindern ist mein Traumjob.»

Schlechte Ausbildung, schlechter Lohn und doch: «Die Arbeit mit den Kindern ist mein Traumjob», sagt Sandra Müller.

Eigentlich hat Basel eine Luxussituation, zumindest für die Eltern: Seit 2006 hat jedes Kind gemäss Verfassung Anspruch auf einen Kita-Platz. Das Angebot an Kita-Plätzen ist seit der Verfassungsänderung massiv gestiegen: 2006 zählte Basel-Stadt rund 2000 Betreuungsplätze, 2014 waren es bereits 3859 Plätze in 110 Tagesheimen. Aktuell kommen 1,5 Kinder auf einen Platz. Im Baselbiet kamen Ende 2015 im Vergleich 7 Kinder auf einen Kitaplatz, wie die Bildungsdirektion gegenüber der TagesWoche sagte, die Zahlen sind noch nicht veröffentlicht. 

Doch für die Angestellten ist die Arbeitssituation in Basel-Stadt alles andere als luxuriös. Kaum hatten wir auf der Redaktion beschlossen, uns mit Tagesheimen auseinanderzusetzen, erhielten wir Nachrichten von Betreuerinnen aus verschiedenen grossen und kleinen Betrieben. Noch bevor wir richtig mit der Recherche begannen, hatten sich unsere Bemühungen bereits herumgesprochen. Einige Kita-Angestellte lassen wir hier, teilweise anonym, zu Wort kommen.

Der Tenor: Die Betreuerinnen und Betreuer sind überlastet, immer wieder kommt es zu Burn-outs. Viele kündigen sich deshalb von Job zu Job oder wechseln gleich ganz den Beruf. Ein Grund dafür sind überforderte Kita-Leitungen, so wie das Sandra Müller erlebt hat. Oft handelt es sich um Erzieherinnen, die zur Leiterin aufsteigen. Doch wer Kinder betreuen kann, weiss nicht auch von alleine, wie man einen kleinen Betrieb führt.

Zu viele Praktikantinnen und Lehrfrauen

Ein weiterer Grund für die Misere: In der Branche gibt es zu viele Praktikanten und Lehrfrauen, aber zu wenig ausgebildetes Personal. Eine Erhebung des Kantons zeigt: 2015/2016 arbeiteten ingesamt 1874 Personen für Tagesheime in Basel. Über 43 Prozent davon waren Praktikantinnen und Auszubildende. Für die Kitas ist das eine billige Lösung. Praktikanten verdienen einige Hundert Franken und Lehrfrauen teilweise im dritten Lehrjahr noch unter 1000 Franken pro Monat.

Oft werden die Praktikantinnen eingesetzt wie normale Betreuerinnen – dabei kommen einige an ihre Belastungsgrenze. Und die ausgebildeten Erzieherinnen und Erzieher auch. Diese Erfahrung macht Natalia Nardangeli (Name geändert) immer wieder. Sie ist ausgebildete Betreuerin und hat schon in mehreren Tagis gearbeitet: «Die Arbeit mit Kindern ist sehr befriedigend, doch die Belastung ist zu gross und die Stimmung schlecht.» Sie müsse sich nicht nur um die Kinder, sondern auch um 16-jährige Praktikantinnen kümmern. «Diese wissen am Anfang nicht, wie man eine Windel wechselt, geschweige denn, wie man einen Streit schlichtet.»

Die Menschen denken: «So ein bisschen Hüten kann jede, das muss man nicht anständig bezahlen.»

Dass sich ausgebildetes Personal um Praktikantinnen kümmert, liegt auf der Hand. Das gehört in anderen Betrieben in der Regel dazu. In Kitas fehlt die Zeit. Denn es gibt, trotz Praktikantinnen, oft so wenige Betreuerinnen, dass alle Anwesenden ständig bei den Kindern sein müssen. Einführen? Feedback geben? Dafür reicht es ebenso wenig wie für Pausen oder Büroarbeiten.

Nardangeli nimmt deshalb Büroarbeiten mit nach Hause und erledigt sie nach dem Feierabend – unbezahlt. Nicht einmal Wertschätzung erhält sie dafür, im Gegenteil. Ist sie einmal krank, muss sie bereits am ersten Tag ein Arztzeugnis bringen. So ist die Regel in ihrem Tagi. «Das ist nicht gerade ein Zeichen von Vertrauen.»

Für Nardangeli stimmen deshalb Leistung und Ertrag nicht überein: «Es ist ja nicht so, dass ich einen riesigen Lohn hätte.» Sie verdient 4300 Franken bei 100 Prozent, einen 13. Monatslohn bekommt sie nicht. Jeder denke: «So ein bisschen Hüten kann jede, das muss man nicht anständig bezahlen.»

Mehr Aufgaben, mehr Kinder, mehr Stress

Regula Riniker beobachtet diese Entwicklung schon seit Jahren. Sie leitet die Kinderbetreuung Stromboli im Kleinbasel und ist seit 30 Jahren in der Branche tätig. Sie sagt: «Die Auszubildenden sind teilweise nach der Lehre so ausgelaugt, dass sie gar nicht mehr im Beruf arbeiten möchten.» 

Die Betreuungsarbeit sei in den letzten Jahren viel anspruchsvoller geworden. Dafür gebe es zwei Gründe:

  • Erstens haben die Kitas heute einen offiziellen Förderauftrag. Sie sollen Kinder punkto Sozialverhalten oder Hygiene auf den Kindergarten vorbereiten. Ausserdem müssen Migrantenkinder, die nicht so gut Deutsch sprechen, in ein Tagi – zur Sprachförderung. Und immer mehr Tagis integrieren auch behinderte Kinder. «Das ist nicht einfach ein bisschen Hüten», stellt Riniker klar. «Das sind pädagogisch anspruchsvolle Aufgaben.» Die Betreuerinnen müssten Lernziele für die Kinder festlegen und Berichte schreiben.
  • Zweitens beobachtet Riniker, dass in den Tagis viel mehr Unruhe herrscht als früher. Der Grund: Viele Kinder kommen nur zwei Tage in die Kita, oft über mehrere Halbtage verteilt. Insgesamt betreut eine Kita also in der gleichen Zeit viel mehr verschiedene Kinder, das bedeutet für die Betreuerinnen auch mehr Standort- und Elterngespräche und mehrmalige Wechsel pro Tag. «Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.»

Riniker fordert deshalb: «Wenn der Staat mehr von den Kitas verlangt, muss er auch mehr dafür bezahlen.» Diese Forderung ist nicht neu: Bereits im Jahr 2013 überreichten 300 Betreuerinnen und Betreuer, zusammen mit der Gewerkschaft VPOD, dem Grossen Rat eine Petition. Regula Riniker war massgeblich daran beteiligt. Die Petition verlangte:

  • mehr ausgebildetes Personal,
  • mehr Vorbereitungszeit für Kita-Mitarbeitende,
  • Springerinnen, die bei Krankheitsausfällen einspringen sowie 
  • einen 13. Monatslohn für alle ausgebildeten Betreuerinnen.

Kein Problem, sagt die Regierung 

Doch die Regierung sah damals punkto Arbeitsbedingungen keinen Handlungsbedarf, wie sie in einer Stellungnahme zu vernehmen gab. Ein ausreichendes und im Preis angemessenes Angebot habe Priorität. In anderen Worten: Die Regierung wollte nicht mehr Geld in die Kinderbetreuung investieren. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Sandra Dettwiler, Abteilungsleiterin Jugend und Familienangebote beim Kanton, sagt: «Ich habe nicht den Eindruck, dass die Arbeitsbedingungen schlecht sind.» Diesen Schluss zieht sie aus einer Elternbefragung aus dem Jahr 2014, die mit rund 1000 Basler Familien durchgeführt wurde. Dabei gaben über 96 Prozent der Eltern an, sie seien zufrieden mit der Kita und den Erzieherinnen, inklusive den Praktikantinnen und Lehrfrauen. «Das zeigt, dass die Qualität der Kitas sehr gut ist», so Dettwiler.

Die Kitas machen sich die Probleme selbst, ist die Kantonsverantwortliche überzeugt.

Organisiert sind die Basler Kitas nicht staatlich, sondern privat. Der Kanton regelt das Angebot über Leistungsvereinbarungen, zahlt Beiträge an die Eltern und ist verantwortlich für die Qualitätssicherung. Der Kanton hat also nur eine Kontrollfunktion und ist nicht per se für die Arbeitsbedingungen zuständig. Allerdings sehen auch die Behörden Baustellen, gerade im Bereich des Personals, wie Dettwiler einräumt: «Wir haben einen Fachkräftemangel.» Und der stehe im Zusammenhang mit den vielen Praktika.

So gibt es gemäss Dettwiler Kitas, die zwar viele Praktikantinnen und Praktikanten haben, aber nur wenige oder keine Ausbildungsplätze anbieten. «Das ist nicht im Sinne des Erziehungsdepartements», sagt Dettwiler. Praktikantinnen sollen nach Ablauf eines erfolgreichen Praktikums die Möglichkeit haben, im Betrieb eine Lehre zu machen. «Betriebe mit sehr vielen Praktikantinnen sprechen wir immer wieder darauf an.» Zudem gibt es tatsächlich Kitas, die den vorgeschriebenen Betreuungsschlüssel nicht einhalten. «Wenn wir davon hören, überraschen wir die Betriebe mit einem Besuch und stellen sie zur Rede.»

Leiterinnen brauchen eine Führungsausbildung

Auch Dettwiler bestätigt die Einschätzung, dass die Arbeitsbedingungen massgeblich von der Kita-Leitung abhängen. Bei mehr als 20 Plätzen muss die Leitung zwingend eine Führungsausbildung haben. «Wir überprüfen das», sagt Dettwiler, und geht in einem weiteren Punkt mit den Angestellten einig: «Erzieherinnen erhalten von der Gesellschaft viel zu wenig Wertschätzung, obwohl das ein Beruf mit sehr hohen Anforderungen ist.»

Müsste man das nicht über höhere Löhne regeln? In unserer Gesellschaft wird Anerkennung im Job in erster Linie übers Geld gemessen. «Nein», findet Dettwiler, «der Lohn ist vergleichbar mit anderen Berufslehren.» Ausserdem herrschten in den Basler Kitas vergleichbare Bedingungen und Qualitätsstandards wie etwa in den Städten Bern oder Zürich.

Das stimmt. Nur: In Zürich sind die Betreuerinnen und Betreuer ähnlich unglücklich. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des städtischen Sozialdepartements. 65 Prozente der befragten Erzieherinnen gaben an, unzufrieden zu sein. Und das aus den gleichen Gründen: Der Mehrheit der Betreuerinnen fehlt die Berufserfahrung, sie sind überfordert und überlastet. Dasselbe gilt für die Leitungspersonen.

In Basel sind die Bedingungen vergleichbar mit anderen Städten. Das Problem: Zürcherinnen und Bernerinnen sind auch unglücklich.

Und der Kanton Bern hat soeben Massnahmen ergriffen, um die Praktikumsstellen in den Kitas zu reduzieren und so die Ausnutzung von Jugendlichen als billige Arbeitskraft zu unterbinden. Savoirsocial, die Dachorganisation der sozialen Berufe, will solche Massnahmen auf die ganze Schweiz ausweiten, wie die «NZZ am Sonntag» schrieb. Für die Kitas könnte das aber schwierig werden: Sie müssten massiv mit den Kosten rauf, um mehr ausgebildetes Personal bezahlen zu können.

Die Kitas, wie sie sich heute finanzieren, haben einen Systemfehler. Das Dilemma ist offensichtlich: Kita-Plätze müssen für Eltern einigermassen bezahlbar sein, die Politik hat den Anspruch, dass Kitas den Staat nicht zu viel kosten, weshalb diese angehalten sind, betriebswirtschaftlich zu funktionieren und die Ausgaben tief zu halten. Das geht auf Kosten der Betreuerinnen. 

Was also tun?

In Basel ist die Diskussion über die Qualität in der Kinderbetreuung noch nicht abgeschlossen. Momentan läuft gerade die Vernehmlassung für eine Gesetzesrevision. Die Regierung will die staatliche Unterstützung der Tagis neu aufgleisen und den Konkurrenzkampf unter den Krippen erhöhen. Das könnte sich wiederum auf die Arbeitsbedingungen der Betreuerinnen und Betreuer auswirken, ebenso auf die Kosten für die Eltern.

Natalia Nardangeli will diese Diskussion nicht abwarten. Sie ist bereits auf der Suche nach einer neuen Stelle – in einer anderen Branche. Sie hat genug vom Stress in der Kita.

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