Ueli Steck: Diese Wand war das Ziel

Der Schweizer Bergsteiger Ueli Steck hat mit einer erneut ausserordentlichen Leistung seinen sechsten Achttausender bestiegen. Durch die schwierige, 2500 Meter hohe Südwand erreichte er den Gipfel der 8091 Meter hohen Annapurna.

Ueli Steck bei seinem Soloversuch an der Annapurna-Südwand 2007. Im unteren Wandteil wird er von einem Stein am Kopf getroffen und stürzt ab. Bis auf einige Prellungen bleibt er unverletzt. (Bild: Robert Bösch)

Der Schweizer Bergsteiger Ueli Steck hat mit einer erneut ausserordentlichen Leistung seinen sechsten Achttausender bestiegen. Durch die schwierige, 2500 Meter hohe Südwand erreichte er den Gipfel der 8091 Meter hohen Annapurna. An der Wand hatte er sich bereits 2007 und 2008 versucht.

Es war ein langjähriges Projekt, es war ein starker Wunsch, es war ein reizvolles Ziel. Im dritten Versuch nun hat Ueli Steck das Projekt realisiert, sich den Wunsch erfüllt, ein weiteres Ziel erreicht. Am 9. Oktober stand er auf dem Gipfel der Annapurna, erreicht über eine der imposantesten Wände überhaupt, die rund 2500 Meter hohe Südwand. Dass er damit seinen sechsten Achttausender bestiegen hat, ist die eine Nachricht; dass er diese grosse Wand durchstiegen hat, ist die vielleicht noch wichtigere.

Wohl war letztlich der Gipfel das Ziel von Stecks mittlerweile 15. Himalaya-Expedition, aber der Weg, also die Wand, war ein ebenso wichtiges. In 28 Stunden stieg Steck solo vom Wandfuss die 2500 Höhenmeter zum Gipfel und wieder zurück – nicht nur eine seiner stärksten Touren, sondern ein ganz starker Akzent in der neueren Geschichte des Himalaya-Bergsteigens.

Die Erstbesteigung

Die Annapurna ist ein Berg, der den Emmentaler Steck fasziniert, seit er ihm in der Literatur erstmals begegnet ist. Tatsächlich ist die Annapurna ein bergsportgeschichtlich interessanter Berg. Sie ist als erster Achttausender bestiegen worden, 1950 durch die Franzosen Louis Lachenal (1921-1955) und Maurice Herzog (1919-2012); die Rettung der beiden durch andere Expeditionsmitglieder ist ebenso legendär wie die Besteigung selbst. Für das Frankreich der Nachkriegszeit wars ein willkommener Prestige-Erfolg.

Die Expedition hatte freilich ein seltsames Nachspiel, ein zufälliges oder nicht ganz zufälliges: Das Gipfelbild, das Herzog von Lachenal machte, war unscharf; jenes, das Lachenal dagegen von Herzog machte, war scharf und für die Medien brauchbar. Es brachte Herzog grosse Popularität, brachte ihn in hohe Ämter, Herzog war von 1958 bis 65 Minister im Kabinett von Charles de Gaulle und von 1970 bis 95 Mitglied im Internationalen Olympischen Comité (IOC).

Die erste grosse Wand

Für Ueli Steck wurde der Berg interessant durch eine Besteigung im Jahr 1970. Nachdem die Gipfel der höchsten Berge «erobert» waren, begann (wie Jahrzehnte zuvor in den Alpen) auch im Himalaya die Suche nach grösseren Schwierigkeiten. Einer britischen Expedition unter Leitung von Chris Bonington gelang die Durchsteigung der Annapurna-Südwand.

Nach langer «Belagerung» und unter Verwendung von Flaschensauerstoff und Fixseilen erreichten Don Whillans und Dougal Haston den Gipfel. Eine Taktik, die damals galt, im heutigen Bergsteigen aber nicht mehr üblich ist, seit sich die Vertreter des Verzicht-Alpinismus immer mehr durchsetzen.

Ueli Stecks Himalaya-Expeditionen

2001: Pumori (7161 m ü. M.). Westwand, Erstbegehung, mit Ueli Bühler.
2002: Jannu (7711 m). Nordwand-Versuch, mit Erhard Loretan.
2003: Erneuter Versuch am Jannu. Mit Loretan und Stefan Siegrist.
2004: Ama Dablam (6856 m).
2005: Khumbu-Express: Cholatse-Nordwand (6440 m), solo. Tawoche-Ostwand (6501 m), solo. Ama Dablam, Nordwestwand-Versuch.
2006: Rekognoszierung der Annapurna-Südwand.
2007: Cholatse-Normalroute, mit seiner Frau Nicole. Pumori-Westwand mit Direktausstieg, solo. – Annapurna-Südwand (8091 m), Soloversuch; im unteren Wandteil wird Steck von einem Stein am Kopf getroffen und stürzt ab. Bis auf einige Prellungen bleibt er unverletzt. Unter Schock gelangt er ins Basislager zurück.
2008: Tengkampoche (6500 m), Nordwand-Erstbegehung, mit Simon Anthamatten. Für diese Begehung werden sie mit den Piolet d’Or ausgezeichnet. – Annapurna, Versuch und Rettung. Steck und Anthamatten versuchen eine neue Südwandroute, kehren bei schlechten Bedingungen um. Gleichzeitig sind in einer anderen Route auf 7500 Metern der Spanier Inaki Ochoa und der Rumäne Horia Colibasanu in Schwierigkeiten. Steck und Anthamatten steigen sofort zu den beiden hinauf. Den Rumänen können sie retten und ins Basislager bringen; für Ochoa kommt die Hilfe zu spät, er stirbt in Anwesenheit Stecks. Für ihr Engagement werden Steck und Anthamatten vom «Beobachter» mit dem Prix Courage ausgezeichnet.
2009: Steck besteigt seine ersten Achttausender; den Gasherbrum 2 (8034 m) und den Makalu, den mit 8463 Metern fünfthöchsten Berg der Welt.
2011: Cholatse-Nordwand, mit Freddy Wilkinson. – 17. April: Shisha-Pangma- Südwestwand (8027 m), solo, rund 2000-Meter-Aufstieg in 10,5 Stunden. – 5. Mai: Cho Oyu (8201 m), Normalroute mit Don Bowie. – 22. Mai: Umkehr auf rund 8700 m auf der Nordseite des Mount Everest (8848 m).  
2011: Ama Dablam (6856 m) auf der Normalroute, zusammen mit seiner Frau Nicole.
2012: Ama Dablam (6856 m), Normalroute. – 18. Mai Mount Everest, Normalroute von Süden, ohne Flaschensauerstoff, zusammen mit seinem damals 21-jährigen nepalesischen Kollegen Tenji.
2013: Im Frühjahr plant Steck zusammen mit dem Italiener Simone Moro, den Everest auf einer schwierigen Route zu besteigen. Während der Vorbereitung wird Steck in eine Auseinandersetzung mit einheimischen Trägern verwickelt, wird bedroht und attackiert; er bricht den Versuch ab. – Am 9. Oktober besteigt Steck die Annapurna durch deren Südwand; Stecks sechster Achttausender. 

Zwei Versuche

Ueli Stecks Auseinandersetzung mit der Annapurna begann im Wohnzimmer – bei der Lektüre von Christophe Lafailles Buch; dieser hatte 1992 versucht, mit Pierre Béguin, einem weiteren Franzosen, eine neue, logischere Route durch diese Wand zu legen. Béguin stürzte tödlich ab, Lafaille gelang in fünf dramatischen Tagen der Abstieg – Steck war infiziert. 2006 rekognoszierte er erstmals die Wand, 2007 machte er sich daran, an seinen ersten Achttausender.

Sein Versuch geriet nicht weit und endete dramatisch: im unteren Wandteil wurde Steck von einem Stein getroffen, er stürzte über 200 m tief ab, blieb aber, mit Ausnahme einiger Prellungen und eines Schocks, unverletzt. Zwei schier unglaubliche Tatsachen kamen da zusammen: In einer rund vier Kilometer breiten, riesigen Wand trifft ein einzelner Stein ausgerechnet den kleinen Helm eines kleinen Menschen, und dass ein Mensch einen derartigen Sturz ohne Folgen überlebt, ist ebenso aussergewöhnlich.

Ein Jahr danach ist Steck zusammen mit dem Walliser Simon Anthamatten wieder in der Wand. Sie brechen aber ihren eigenen Versuch ab, weil auf einer andern Route zwei Kollegen in Not sind. Steck und Anthamatten steigen rasch und mit allen verfügbaren Medikamenten zu ihnen auf; Anthamatten gelingt es, den Rumänen Horia Colibasanu aus der Wand zu bringen, Steck steigt weiter zum Spanier Inaki Ochoa bis auf 7400 m auf, muss aber miterleben, wie dieser in Stecks Anwesenheit stirbt. Für ihre Aktion wurden Steck und Anthamatten danach mit dem Prix Courage des «Beobachters» geehrt.

Während dieser Expedition lernt Ueli Steck den in den USA lebenden Kanadier Don Bowie kennen; mit ihm geht er 2011 nach Tibet; sie erreichen zusammen den Gipfel des Cho Oyu, des sechsthöchsten Bergs der Welt, kehren danach am Everest auf unterschiedlichen Höhen um. Jetzt, an der Annapurna-Südwand, war Bowie wieder dabei, allerdings nicht bei der Durchsteigung der Wand, sondern bei der Vorbereitung und Rekognoszierung.

Allein, schnell, sicher

Im Unterschied zu seinen beiden abgebrochenen Versuchen war Ueli Steck nun nicht im Frühjahr, sondern im Herbst an der Annapurna. Im Frühjahr liegt oft sehr viel Schnee in der ziemlich ungeschützt dastehenden Wand. In der Nachmonsunzeit dagegen ist das Wetter eher stabiler, wenn auch kälter. Dadurch sind die Eisverhältnisse zuverlässiger. Steck hat die Annapurna-Wand in jenem Stil begangen, in dem er im Frühjahr 2011 auch die Südwestwand des Shisha Pangma durchstiegen hatte: Rasch entschlossen, allein, schnell, elegant, kurzer Aufenthalt in der sogenannten «Todeszone», nur kurze Zeit den Gefahren ausgesetzt.

Damit hat er erneut umsetzen können, was er nach seinen Phasen des Free-Solokletterns und des Speedkletterns für sich skizziert hatte: Auch in grossen Höhen allein, schnell und sicher unterwegs sein zu können. Nebenwirkung seines jetzigen Erfolgs in grossen Höhen: Man wird nicht mehr von jenem westlichen Alpinisten reden, der vor einem halben Jahr am Everest eine Auseinandersetzung mit Sherpas hatte, man redet jetzt wieder von Ueli Steck als Bergsteiger.

 

Annapurna: schwierig und gefährlich

Die Annapurna ist einer von 14 Achttausendern; mit 8091 Metern ist sie der zehnthöchste Berg der Welt. Wie die meisten Achttausender trägt der Berg seinen «einheimischen» Namen und nicht einen von Kolonisaturen künstlich erfundenen, wie etwa Mount Everest oder K2. Das Doppelwort Anna-Purna soll soviel bedeuten wie «Göttin, welche Nahrung spendet».

Die Annapurna ist als erster aller Achttausender bestiegen worden, 1950 von einer französischen Expedition. Paradoxerweise ist er heute der am wenigsten bestiegene; noch keine 200 Alpinistinnen und Alpinisten haben den Gipfel erreicht – dagegen machen sich allein am Everest an einem «guten» Tag um die 200 Personen auf  den Weg zum Gipfel. Die zweite Besteigung gelang erst 1970, einer britischen Expedition.

Vor Ueli Steck haben bereits zwei andere Schweizer die Annapurna auf spektakuläre Weise bestiegen: Norbert Joos (1960) und Erhard Loretan (1959-2011) glückte die gesamte Überschreitung von Südost nach Nordwest; auf ihrer fast acht Kilometer langen Höhentour über drei Gipfel waren sie fast fünf Tage in grösster Höhe unterwegs.

Bisher sind mindestens 60 Menschen an der Annapurna ums Leben gekommen, allein 20 davon bei Lawinenabgängen, darunter auch der Kasache Anatoli Bukrejew (1958-1997), damals einer der stärksten  Alpinisten. Im Jahr 2000, 50 Jahre nach der Erstbesteigung, schrieb Reinhold Messner über die Annapurna: «Die Annapurna-Besteigung kann man nicht buchen; zum Glück noch nicht. Von Norden ist der Berg für eine geführte Gruppenreise, zu gefährlich, von Süden zu schwierig, von Westen zu gefährlich und zu schwierig zugleich.»

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