Die Behörden arbeiten in ihren Gremien am grossen Schulumbau und das Volk streitet über ein Sexköfferchen. Ein Fehler.
Es ist ein Tag der Freude, der nächste Montag. Die neuen Kindergärtler starten endlich ihr grosses Abenteuer, die Schüler mit etwas mehr Erfahrung sehen all ihre Kollegen wieder, und die noch etwas schwieriger zu begeisternden Jugendlichen in den letzten Klassen können sich wenigstens mit der Aussicht auf den baldigen Abschied von der Schule über das Ende der Ferien hinwegtrösten.
Gleichzeitig ist der Montag aber auch ein Tag des Frusts. Und vielleicht sogar der Angst. Ungezählt die Kinder und Jugendlichen, die nach dem Schulbeginn kein Abenteuer mehr erwarten, sondern endlose Stunden der Langeweile, Notenstress oder Ärger mit dem Lehrer.
Im Gegensatz zu all den Kindergärtlern und Schülern mit den unterschiedlichsten Gemütslagen haben die Bildungsbehörden der beiden Basel ihren speziellen Tag bereits hinter sich. Doch auch bei ihnen ist nicht so ganz klar, ob nun Freude oder Frust überwiegen, nachdem sie kurz vor den Sommerferien ihr neues Schulprogramm präsentiert haben.
Die obersten Erzieher selbst sind begeistert von ihrem Werk. Bei der Medienorientierung im Museum.BL in Liestal überboten sich der Baselbieter Bildungsdirektor Urs Wüthrich und sein Basler Kollege Christoph Eymann nur so mit Superlativen. Ein gemeinsames Schulsystem für zwei Kantone mit einer einheitlichen Stundentafel ab 2015 vom Kindergarten bis zum Gymnasium sei ein Modell für die ganze Schweiz; ein Projekt, «historischer als historisch», vergleichbar höchstens noch mit der ersten Mondlandung, wie sie ohne übertriebene Bescheidenheit zu verstehen gaben: «Hier im Museum gibt es eine Ausstellung zum Thema Raumfahrt. Insofern passt der Rahmen bestens.»
Was sowohl die beiden Regierungsräte als auch ihre Chefbeamten unerwähnt liessen: Die neuste Ausstellung im Museum.BL ist nicht irgendwelchen Höhenflügen gewidmet, sondern dem Thema der Verstellung, der Verschleierung und der Lüge. Es mag nur ein Detail sein – aber ein bezeichnendes, zumindest wenn zutrifft, was die Vertretungen der Musiklehrer und der Lehrer im Bereich Bildnerisches Gestalten sagen. Die Kreativabteilung unter den Pädagogen spricht von einem «Skandal», weil der stolz verkündete Ausbau der sprachlichen und vor allem naturwissenschaftlichen Fächer nur möglich sei, weil gleichzeitig die musischen und gestalterischen Fächer zusammengestrichen würden. Damit entstehe ein krasses Ungleichgewicht – ein noch grösseres wohl auch als in allen anderen Deutschschweizer Kantonen nach der Einführung des Lehrplans 21. Dazu würden Wüthrich und Eymann am liebsten aber gar nichts sagen.
Wenn das Pestalozzi wüsste!
Diese Abwendung von der Kunst sei einer Kulturstadt wie Basel unwürdig, sagen die Kritiker. In den Leserkommentaren der TagesWoche wurde zudem moniert, dass die Jugendlichen eine ganzheitliche Ausbildung bräuchten. Überpädagoge Johann Heinrich Pestalozzi habe schon vor 200 Jahren festgestellt, dass die Kinder in allen Bereichen geschult werden müssten – Kopf, Herz und Hand.
Seither sind die Erwartungen an die Schule noch wesentlich gestiegen. Das zeigen auch die vielen Vorschläge im Hinblick auf den Lehrplan 21 der Erziehungsdirektorenkonferenz. Da gibt es zum Beispiel jene, die sich wegen der häufig dürftigen Stimmbeteiligung grämen und als Gegenmassnahme die Einführung einer Staats- und Politkunde in der Schule verlangen. Oder jene, die mit einem Fachbereich «Gender» die Gleichberechtigung endlich durchsetzen wollen. Die etwas Frivoleren wiederum möchten ihren Kindern neben all den problembeladenen Fächern und Fachbereichen auch noch ein paar angenehme Stunden im Fach «Glück» ermöglichen. Und, und, und.
Fachübergreifend sollten die Jugendlichen zudem für die vielen Gefahren der heutigen Welt sensibilisiert werden (Gewalt! Medien! Aids! Süssgetränke!), in diesen Punkten ist man sich weitgehend einig. Ebenso wie beim Lamento über die Eltern, die ihren Kindern keinen Anstand mehr beibringen, was selbstverständlich ebenfalls die Schule korrigieren muss – wer denn sonst? So berechtigt einzelne Anliegen möglicherweise auch sind: Um sie alle umzusetzen, würde wahrscheinlich nicht einmal ein Hundert-Stunden-Pensum reichen. Nun kann man einem Schweizer Schüler selbst beim schlechtesten Willen kaum mehr als 30 Stunden Schule in der Primar und 36 in der Sek zumuten. Logische Folge: erhebliche Abstriche bei der Fächer-Wunschliste. Die vielen Lobbyisten haben die entsprechende Gefahr frühzeitig bemerkt – und interveniert.
So wenig Musikgehör wie für die Anliegen der Kreativen zeigten die Behörden dabei keineswegs bei allen. Mit den höheren Mächten wollten sie sich ganz offensichtlich gut stellen, sowohl was die real existierenden anbelangt als auch die übersinnlichen. So kamen sie der Wirtschaft mit dem Ausbau der Naturwissenschaften entgegen und der Kirche mit der Weiterführung ihres Religionsunterrichts – egal, wie kurios die Folgen auch sind. So werden die Kinder und Jugendlichen in der Region Basel nun bald doppelt in den Religionsunterricht geschickt – einerseits in den kirchlichen und andererseits in den staatlichen Ethik-, Religionen- und Gemeinschaftsunterricht, der aller Voraussicht nach vom Lehrplan 21 vorgeschrieben werden wird.
Das sind weitreichende Entscheide, die nicht nur auf Kosten der Kreativfächer gehen. Unklar ist auch die Zukunft des Geschichts- und Geografieunterrichts, die in einem neuen Fachbereich «Räume, Zeiten, Gesellschaften» aufgehen.Schon jetzt zu den Verlierern gehören zudem die Informatiker, die kein eigenes Fach mehr erhalten – wahrscheinlich der grösste Widerspruch im neuen Schulprogramm, das der Wirtschaft die dringend benötigten Fachleute in den verschiedensten Bereichen liefern soll. Martin Guggisberg vom Departement Mathematik & Informatik an der Universität Basel hat für diesen Widersinn eine einfache Erklärung: «In der Arbeitswelt werden die Informations- und Kommunikationstechnologien immer wichtiger. In der Bildung sind wir Informatiker aber immer noch die Exoten. Wir können keine starke Lobby bilden wie zum Beispiel die deutlich zahlreicheren Mathematiker.»
«Bildungspolitische Katastrophe»
Kämpfen können sie dennoch für ein eigenes Fach. Und das tun sie auch. «Was nicht benotet wird und kein eigenes Zeitgefäss hat, erlangt den Status von Nebensächlichkeiten», schrieb der Schweizerische Verein für Informatik und Ausbildung (SVIA) in einem Brief an die Erziehungsdirektoren.
An der ETH Zürich wird man sogar noch sehr viel deutlicher in der Kritik. «Ich befürchte, dass die deutsche Schweiz die grosse Chance verpasst, die Schüler auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten», sagte der emeritierte ETH-Professor Walter Gander in der «NZZ am Sonntag» mit ausdrücklicher Unterstützung des Rektorats. Und Juraj Hromkovic, Professor für Informationstechnologie und Ausbildung an der ETH, sprach sogar schon von einer «bildungspolitischen Katastrophe».
Alles perfekt – angeblich
Die Bedenken sind begründet. Das zeigt die letzte, angeblich grosse Errungenschaft, die in der Schweizer Schullandschaft eingeführt worden ist: Frühfranzösisch beziehungsweise Frühenglisch. Während Pierre Felder vom Basler Erziehungsdepartement von «topmotivierten Lehrern» und «begeisterten Schülern» spricht, ergibt eine erste Umfrage der Basler Schulsynode unter den Lehrern bestenfalls ein durchzogenes Bild: Von begeisternden Lernerfolgen ist darin jedenfalls keine Rede, dafür immer wieder von Schwierigkeiten, von «leistungsschwachen Kindern» zum Beispiel, die nach den langen Nachmittagen mit Französisch nun «noch auffälliger» seien.
Mehrere Basler Lehrerinnen und Lehrer haben der TagesWoche zudem gesagt, dass vor allem fremdsprachige Kinder von der zusätzlichen Sprache häufig überfordert seien. Überraschend kommen auch diese Probleme nicht. Denn Vorbehalte gab es bereits vor der Einführung 2011. «Der Nutzen von Frühfremdsprachen wird massiv überschätzt», sagte zum Beispiel der Sprachforscher Urs Kalberer bereits vor Jahren. Jugendliche, die Englisch oder andere Fremdsprachen lernten, seien punkto Grammatik und Wortschatz häufig sehr bald so weit wie die frühen Lerner – oder sogar weiter. Kalberers Begründung: Während die Älteren systematisch Wörter büffeln und Regeln verallgemeinern könnten, lernten die Jüngeren eher beiläufig, am besten in einem intensiven «Sprachbad», wo sie «die Wörter und Satzkonstruktionen einfach aufsaugen können». Der frühe Fremdsprachenunterricht biete ihnen aber bestenfalls eine kurze und möglicherweise abschreckende Dusche.
Das sehen auch prinzipielle Befürworter wie Georges Lüdi, emeritierter Professor für Französisch der Uni Basel, so: «Zwei, drei einzelne Lektionen pro Woche sind eindeutig zu wenig», sagte er vor zwei Jahren. Doch spätestens seit dem Schock über die dürftigen Ergebnisse bei den Pisa-Studien werden solche Bedenken in der Schweizer Bildungslandschaft vom allgemeinen Aktionismus jeweils sehr rasch weggewischt.
Dabei überfordert diese ständige Veränderung nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer und ihre Ausbildungsstätten. Heute fehlen dort Primarlehrer, die Lust auf Französisch-Unterricht verspüren – und bald wohl auch die Sekundarlehrer für die ausgebauten Bereiche Mathematik und Naturwissenschaften.
Die Pädagogischen Hochschulen würden die nötigen Massnahmen ergreifen, wird einem zwar bei den Erziehungs- und Bildungsdepartementen versichert. Doch das scheint ein Irrtum zu sein. «Die Studierenden treffen ihre Fächerwahl selbstständig. Schliesslich herrscht in der Schweiz freie Studienwahl», sagt Christian Irgl, Sprecher der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, dazu nur.
Hauptsache Sex
Ganz offensichtlich kommen da mit dem grossen Schulumbau noch einige Schwierigkeiten auf die Schweiz zu. In der breiten Öffentlichkeit bleiben sie allerdings weitgehend unbeachtet.
Vielleicht weil das gesamte Projekt ganz einfach zu gross ist und sich kaum mehr erfassen lässt.
Vielleicht weil die Verwaltungen und ihre Einflüsterer ihre Reform ohnehin durchziehen, egal was bei den vielen Vernehmlassungen herauskommt, bei denen sich die Lehrer, Verbandsleute und sonstig Interessierte stundenlang mit irgendwelchen Nebensächlichkeiten auseinandersetzen.
Oder vielleicht tragen auch die Medien eine Mitschuld, die sich auf die paar wenigen populären Themen stürzen, die die Reformen mit sich bringen. Auf den Sexkoffer zum Beispiel. Darüber lässt sich wunderbar reden, schreiben und streiten.
Darum hat sich schon bald das halbe Land damit auseinandergesetzt, vom empörten Vater in Basel über die lokalen und nationalen Politiker bis hin zum Bundesrichter in Lausanne. Möglicherweise muss auch das Volk schliesslich noch darüber abstimmen, falls die ursprünglich von einem wegen Kindsmissbrauch Verurteilten angeregte Initiative von Rechtsaussen-Politikern nun tatsächlich wie angekündigt neu lanciert wird.
Bei diesem Geschäft ist alles ein wenig absurd, vor allem wenn man bedenkt, welche Bilder die Generation Internet bereits zu Gesicht bekommt, bevor auch noch ein Lehrer mit einem möglicherweise leicht erröteten Kopf vor ihnen auftaucht, das ominöse Köfferchen zückt, allerhand nur sehr bedingt aufregendes Aufklärungsmaterial hervorklaubt, ehe er, quasi als Höhepunkt, dann tatsächlich auch noch die Plüschvagina und den Holzpenis hervorzaubert.
Was solls? Sex verkauft sich eben, auch in der Politik. Also macht man es zum Thema. Und so ist es gut möglich, dass sich die Schweiz bald wieder über primäre Geschlechtsorgane in Plüschform ereifert, während die Erziehungsdirektoren, die Erziehungsräte und die übrigen Verantwortlichen des Lehrplans 21 den grossen Schulumbau hinter verschlossenen Türen weiter vorantreiben. Präsentiert werden die Resultate frühestens im nächsten Frühjahr – wenn es für Korrekturen wahrscheinlich ohnehin schon zu spät ist.
Ein grosses Problem? Für die Schüler und ihre Lehrer, die sich neben all den Reformen auch noch mit dem eigentlichen Schulstoff beschäftigen müssten: höchstwahrscheinlich schon.
Für die Schulmacher: nicht unbedingt.
Sie können ihre Reform immer noch reformieren. Oder wie es der Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann kürzlich vor einem Gastreferat an der Universität Basel in einem Interview mit der TagesWoche gesagt hat: «Es liegt in der Logik der Reformen, dass jede Reform reformbedürftig ist.»
Dabei wäre es eigentlich gar nicht nötig, die Schule ständig neu zu erfinden, sagt Liessmann: «Weil gute Schulen durch gute Lehrer entstehen und nicht durch immer neue Strukturen.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12