Es funktioniert einfach nicht: Väter können Kinder, Karriere und Partnerschaft nicht vereinbaren, behaupten die beiden «Zeit»-Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing in ihrem Buch «Geht alles gar nicht». Was macht sie so pessimistisch?
Marc Brost, Heinrich Wefing, Sie haben ein Buch geschrieben über die Unvereinbarkeit des Vater-, Partner- und Arbeitnehmerseins. Ist es für Männer heute wirklich so stressig, all das unter einen Hut zu bekommen?
Marc Brost: Ja.
Sie haben es «Vereinbarkeitslüge» genannt. Was will da konkret vereinbart werden?
Heinrich Wefing: Vereinbart werden wollen Liebe, Kinderhaben, Beruf. Es geht uns nicht um das Karrieremachen – es ist oft schon schwierig genug, einen ganz normalen Beruf auszuüben.
Und wo ist die Lüge?
Wefing: Gelogen wird in der Politik, die uns suggeriert, wenn es nur ein paar Kita-Plätze mehr gibt und das Elterngeld ein paar Monate länger bezahlt wird, gäbe es keine Probleme. Gelogen wird in der Politik, wenn gefordert wird, Männer und Frauen müssten nicht weniger, sondern mehr arbeiten – und niemand sich darüber Gedanken macht, was währenddessen aus den Kindern wird. Gelogen wird in den Unternehmen, die so tun, als würden sie ganz viel für Familien tun, aber oft konkret einfach gar nichts tun – weil es Geld kostet, Flexibilität zu schaffen.
Woher kommt der Glaube, dass sich alles vereinbaren lässt?
Brost: Der Anspruch wird natürlich nie so offen formuliert, aber er ist eine Folge dessen, wie wir leben wollen – nämlich gleichberechtigt. Im Grunde hat sich die Gesellschaft ja unheimlich zum Positiven geändert: Heute können auch Frauen Karriere machen und Männer in Elternzeit gehen. Dafür haben sehr viele gekämpft.
«Wir erleben eine ungeheure Verdichtung von Arbeit und Zeit. Das erzeugt einen nie dagewesenen Druck.»
Wo ist der Haken?
Brost: Wir sind nicht nur die erste Generation, die Gleichberechtigung wirklich zu leben versucht. Wir sind auch die erste Generation, die der Globalisierung ausgesetzt ist. Wir erleben eine ungeheure Verdichtung von Arbeit und Zeit. Das erzeugt einen nie dagewesenen Druck. Und gleichzeitig sind wir auch eine Generation, die viel Wert auf Aussendarstellung legt. Man hat also immer den Eindruck, dass alle anderen es schon irgendwie schaffen, nur man selbst eben nicht.
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Das vermutete Glück des Nachbarn erzeugt das Phantom der gelungenen Vereinbarkeit?
Brost: In unseren Recherchen haben wir oft erlebt – Männer sprechen nicht über diese Probleme. Erst einmal sagen alle: Bei mir funktioniert das. Wir sind permanent mit Bildern von glücklichen Familienausflügen konfrontiert – auf Facebook, bei Instagram und in der Werbung. Wenn das nicht mit der eigenen Wirklichkeit korrespondiert, entstehen die ersten Zweifel. Bei unseren Interviews brach es oft richtig aus den Befragten heraus, wie sehr sie unter dem Druck leiden.
Wefing: Vielleicht ist es auch eine Frage nach den Ansprüchen, die wir an uns selbst haben. Wir wollen gute Väter sein, wir wollen gut im Job sein, wir wollen mit unseren Partnerinnen eine intensive Partnerschaft führen. Das sind ja für sich betrachtet keine wahnwitzigen Forderungen. Nur in der Zusammenballung wird es unglaublich viel.
Dieses Problem haben auch schon diverse Autorinnen benannt.
Brost: Ja, das stimmt. Viele Mütter sagen uns: Endlich merkt ihr es auch; so geht es uns schon lange! Deshalb ist es wichtig, dass sich auch die Väter äussern – denn erst, wenn Väter und Mütter sagen: Moment, da läuft was schief, kann man für Familien insgesamt etwas tun.
Wefing: Vor allem die Politik muss endlich kapieren, was da draussen im Land eigentlich los ist. Dann findet sie hoffentlich zu Lösungen, die Familien wirklich helfen.
Kann die Politik da allein etwas ausrichten? In Ihrem Buch werden auch zahlreiche Probleme benannt, die durch die Dynamik der Wirtschaft entstehen.
Wefing: Unsere Wirtschaft setzt immer stärker auf Dienstleistungen. Das erwarten wir als Kunden auch: Das Spital muss immer erreichbar sein, der Supermarkt rund um die Uhr offen, die Pflegekräfte permanent verfügbar. Doch die ganze Service-Industrie ist komplett familienfeindlich. Und auch andere Wirtschaftszweige fordern Tempo, Ortswechsel, Flexibilität. Das widerspricht vielen Dingen, die für ein funktionierendes Familienleben gut wären: Ruhe, Stabilität, Zeit. Trotzdem hat sich unsere Gesellschaft immer stärker der Logik der Wirtschaft angepasst.
«Wir sind mit ökonomischen Entwicklungen konfrontiert, die wir selber gar nicht steuern können.»
Vielleicht, weil wir uns heute immer stärker durch unseren Beruf identifizieren? Und weil die vorrangige Identifikation mit dem Vater- oder Muttersein keine adäquate Alternative für unser heutiges Leben darstellt?
Brost: In gewisser Weise sind wir so erzogen worden: Ärmel hochkrempeln, alle Aufgaben erledigen, immer die Pflichten erfüllen. Es gab und gibt eine klare Priorisierung der Arbeitswelt. Es wäre schön, wenn sich das wieder ein wenig umkehren liesse, hin zu einer Priorisierung der Familie.
Ein in Ihrem Buch vielgenanntes Problem ist die heute übliche permanente Erreichbarkeit.
Wefing: Ja, die ständige Erreichbarkeit ist ein Teilaspekt der Globalisierung und der Digitalisierung. Wir erleben eine Vervielfachung und Intensivierung von Kommunikation.
Was aber kann der Einzelne tun? Ist man nicht frei zu entscheiden, ob man etwa bei der ständigen Erreichbarkeit mitmacht oder nicht?
Wefing: Es gibt leider eine Tendenz, die Lösung gesellschaftlicher Probleme zur individuellen Aufgabe zu erklären. Das entlastet die Politik, das entlastet die Unternehmen. Natürlich müssen wir uns auch selbst ändern. Aber wir glauben, dass wir mit Entwicklungen konfrontiert sind, die weit über das hinausgehen, was ein Einzelner allein ändern kann. Selbst wenn alle Väter und Mütter ihre Handys am Abend und am Wochenende ausschalten, hat die Firma trotzdem Handelsbeziehungen mit Japan oder Amerika. Das kann man nicht einfach abschneiden. Wir sind mit ökonomischen und politischen Entwicklungen konfrontiert, die wir selber gar nicht steuern können.
Angesichts dieser dichten Problematik drängt sich die Frage auf: Ist die klassische Rollenverteilung doch nicht so schlecht?
Wefing: Einige solcher Frauen, die sich bewusst für dieses Modell entschieden haben, schrieben uns: «Jetzt seht ihr mal, welchen Preis ihr dafür zahlt.» Aber das ist nicht unsere Position, wir wollen nicht dahin zurück.
Warum?
Wefing: Weil sich die Probleme nur verschieben. Was geschieht mit den Frauen und den Beziehungen in dem Moment, wo die Kinder ausziehen? Keines der Modelle funktioniert ohne grosse Probleme.
«Wir müssen unser Leben wieder stärker nach der Logik der Familie ausrichten.»
Haben Sie Lösungsvorschläge?
Wefing: Wir haben nicht die eine Lösung für alle Probleme, aber die Richtung ist klar: Wir müssen unser Leben wieder stärker nach der Logik der Familie ausrichten.
Was heisst das genau?
Brost: Wir glauben, dass man Lebenswege und Berufsbiografien anders organisieren müsste. Zwischen Ende 20 und Anfang 40 passiert so viel gleichzeitig: Karriereschritte, Familiengründung, Pflegebedürftigkeit der Eltern. Unter dieser Zusammenballung leiden wir alle, und darunter gehen Rücken kaputt, scheitern Ehen, landen viele im Burnout.
Was schlagen Sie vor?
Brost: Wenn wir uns einig sind, dass die «Rush hour» des Lebens – die Zeit zwischen Ende 20 und Anfang 40, in der sich soviel ballt wie in keiner Generation zuvor – entzerrt werden sollte, dann reicht es nicht, nur über Wochenarbeitszeiten zu reden. Dann muss die Arbeitszeit über das Leben hinweg ganz anders organisiert werden. Wir wissen heute, dass wir alle im Alter sehr sehr viel länger werden arbeiten müssen. Und wir können das auch, sind im Alter viel aktiver und fitter als früher. Warum ist es also nicht möglich, zwischen 30 und 40 deutlich kürzer zu treten und das weniger Gearbeitete dann später wieder aufzuholen?
«Wir sind relativ optimistisch, dass wir eine Generation des Übergangs sind.»
Könnte das die Geschichte sein, die Sie einmal Ihren Enkeln erzählen?
Wefing: Wenn wir eine Komplettlösung hätten, dann hätten wir das aufgeschrieben. Aber wir sind relativ optimistisch, dass wir eine Generation des Übergangs sind, Pfadfinder in einem Kontinent namens Neuland. Vielleicht ist es für unsere Kinder schon einfacher.
Brost: Das Schöne ist, die Veränderung hat schon begonnen. Überall wird diskutiert, in den Medien, im Freundes- und Bekanntenkreis – ich bekomme nun viel mehr Anregungen und Ideen, wie ich mein eigenes Leben ändern kann.
Dann schreiben Sie in drei Jahren ein neues Buch?
Wefing: Genau (lacht). Der zweite Teil heisst dann: «Geht doch alles».
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Marc Brost, Heinrich Wefing: «Geht alles gar nicht», Rowohlt, 240 Seiten, ca. 18 Franken.