Veraltetes Lehrmittel? Was man trotzdem daraus lernen kann

Historische Lehrmittel veralten zwangsläufig. Man kann trotzdem etwas aus ihnen lernen.

(Bild: Wikicommons)

Historische Lehrmittel veralten zwangsläufig. Man kann trotzdem etwas aus ihnen lernen.

Als die Bibel noch das wichtigste Buch des Abendlandes war, prägten Erzählungen und ihre Deutungen den Blick von uns Menschen auf die Welt und ihr Treiben. Dies änderte sich auch nicht wesentlich, als die Bibel ihre zentrale Stellung verlor und andere Bücher unsere Wahrnehmung prägten. Solche «Prägung» und «Strukturierung» unseres Blicks mithilfe von Texten und Büchern können mehr oder weniger beabsichtigt sein; bei Schulbüchern sind sie gewollt.

Die Schule soll bekanntlich – so das pädagogische Glaubensbekenntnis –  nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch unsere Bildung fördern. Und zur Bildung gehört eben auch, mit welchen Augen wir das Universum betrachten, wie wir Menschen begegnen und Dinge einordnen. Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich letzthin ein Geschichtsbuch in die Hand nahm, das mir in meiner schon etwas länger zurückliegenden Schulzeit von der Lehrmittelverwaltung des Kantons Basel-Landschaft anvertraut worden war.




(Bild: Catharina Hanreich)

Das Schulbuch hat einen auffällig roten Einband, und sein Titel ist «Ruhu der Höhlenbube». Dem Titelblatt ist zu entnehmen, dass es neben der Geschichte von Ruhu noch «andere geschichtliche Erzählungen» enthält. Verfasst hat sie Ernst Grauwiller, die zahlreichen Zeichnungen stammen von Willy Stäheli. Als Herausgeber des 1961 gedruckten Buchs fungierte die Kantonale Lehrmittelkommission.

Von der Steinzeit ins Mittelalter

Mit dem Buch sollte offenbar in den oberen Primarklassen der Volksschule das Fundament für das historische Verständnis unserer Region und ein bisschen auch der übrigen Schweiz gelegt werden. Dies mithilfe einer Reihe «geschichtlicher Erzählungen», die insbesondere den Knaben Identifikationsmöglichkeiten boten.

Der Gang durch die Geschichte beginnt in der Steinzeit mit den Erlebnissen von «Ruhu dem Höhlenbuben». Von den Höhlenbewohnern geht es weiter zu den Pfahlbauern und «Wulfo, dem Bronzegiesser». Ein paar Jahrhunderte später sind wir in einer keltischen Siedlung an der Ergolz – und damit definitiv im Baselbiet. Dann kommen die Römer ins Land und mit ihnen die Segnungen der Kultur. Später werden sie von den Alamannen überrannt. Und schliesslich entstehen Burgen, Städte und Klöster.




«Donar ist gross und mächtig.» Die Kinder lauschen gebannt der Grossmutter. (Bild: Catharina Hanreich)


«Ruhu» endet mit dem späten Mittelalter: Buchdruck, Reformation, die Auseinandersetzung zwischen Stadt und Land sind kein Thema. Möglich, dass der Verfasser der Ansicht war, die späteren Epochen seien im Rahmen eines Lehrmittels für die Sekundarschule anders als mit Erzählungen zu bearbeiten.

Welches Geschichtsbild sollte mit «Ruhu» und den übrigen Erzählungen vermittelt werden? Zum einen werden wir mit der Gliederung der Frühgeschichte anhand der zur Herstellung von Werkzeugen und Waffen verwendeten Hauptmaterialien (Steinzeit, Bronzezeit) bekannt gemacht. Zum andern lernen wir unterschiedliche Wohnformen (Höhlen, Hütten, Dörfer, Burgen, Städte und Klöster) und damit verbundene Lebensweisen kennen. Und schliesslich machen die Erzählungen deutlich, dass in unserer Region im Laufe der Zeit unterschiedliche Stämme (Rauriker, Römer, Alamannen) lebten.

Ohne chronologisches Gerüst

Abfragbares historisches Faktenwissen, namentlich Jahreszahlen, ist in «Ruhu» eher rar. Immerhin erfahren wir etwa, wann die Helvetier in der Schlacht bei Bibracte geschlagen wurden (58 v. Chr.) oder in welchem Jahr das grosse Erdbeben Basel zerstörte (1356). Ein eigentliches chronologisches Gerüst, an welchem man das Gelesene fixieren könnte, fehlt. «Ruhu» ist weitgehend im regionalen Raum verankerte Kultur- oder Zivilisationsgeschichte, angereichert mit etwas Krieg und Katastrophen.

Das Buch enthält aus heutiger Sicht viel Fragwürdiges. Angesichts des Buchtitels und des Erscheinungsjahrs wäre es auch überraschend, wenn «Ruhu» nicht in die Gender-Falle tappen würde. Als grössten Mangel empfinde ich, dass uns der Verfasser im Dunkeln lässt, aus welchen Quellen er sein Wissen schöpft. Immerhin nimmt das Buch auf regionale archäologische «Denkmäler» (Augusta Raurica, Homburg) Bezug und lädt damit ein, Gelesenes mit dem Befund vor Ort zu vergleichen.

Worin das Handwerk des Historikers besteht, hat uns «Ruhu» seinerzeit nicht gelehrt. Wie aus Fakten Geschichte destilliert wird und Erklärungsmuster geschmiedet werden, habe ich dank anderer Bücher gelernt. «Ruhu» will ich zugutehalten, dass es mir gezeigt hat, dass Geschichte spannend sein kann – wenn das manchmal auch nur die halbe Wahrheit ist.

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