Versteckt in den Nischen der Poesie

Sinn des Lebens. Tönt gewaltig. Warum, wozu? Woher, wohin? Die Fragen kommen mir bekannt vor. Aber sie brennen mir nicht unter den Nägeln, heute.

(Bild: Patric Sandri)

Sinn des Lebens. Tönt gewaltig. Warum, wozu? Woher, wohin? Die Fragen kommen mir bekannt vor. Aber sie brennen mir nicht unter den Nägeln, heute.

Abt Peter von Sury

Früher, im letzten Jahrhundert, als ich noch jung war, viel jünger, da war das anders. Da gab es die vielen gros­sen Fragen, auf die ich keine Antwort fand. Darum ging ich oft in den Wald, hinter Solothurn, spät am Abend oder ganz früh am Morgen, und versuchte, die unheimlichen schwarzen Löcher mit Gedichten zu füllen.

Es tat mir gut, den Baumstämmen entlang in die Höhe zu blicken, durchs Blätterwerk hindurch in den gestirnten Himmel, und dabei Conrad Ferdinand Meyer zu deklamieren, halblaut. Immer wieder sein Gedicht «Jetzt rede du!». Es spricht nicht ausdrücklich, aber für mich, damals, tief eindrücklich vom Sinn des Lebens. Die paar Verse stehen im Band «Deutsche Lyriker vom XVI. bis XX. Jahrh.», zehnte Auflage, 1966.

Es ist das einzige Buch, das mich seit dem Gymnasium überallhin begleitet hat, bis hinein ins Kloster. Es steht neben der Bibel, auf Augenhöhe, eine halbe Armlänge vom Schreibtisch. Es steht neben Kurt Martis dünnen dichten Bändchen, neben meinem Mitbruder Pater Bruno Stephan Scherer. Und, weil es auch Lyrikerinnen gibt, neben Ingeborg Bachmann.

Irgendwie kam ich auf die Idee, Meyers Gedicht auswendig zu lernen. Des Dichters Worte trafen eine sensible Stelle, brachten etwas zum Klingen, weckten eine Sehnsucht, rührten an Unaussprechliches, Ewiges. Noch jetzt ergreift mich Ehrfurcht, wenn ich die Worte nachspreche, Silbe für Silbe. War es spätpubertäres Pathos? Gewiss auch. Ich schäme mich dessen nicht. Beides gehört zum Leben, Leiden und Leidenschaft, je nachdem. So tönt es:

Du warest mir ein täglich Wanderziel,
Viel lieber Wald, in dumpfen Jugendtagen.
Ich hatte dir geträumten Glücks soviel,
Anzuvertraun, so wahren Schmerz zu klagen.

Später vernahm ich, dass C. F. Meyer gegen Ende seines Lebens an «seniler Melancholie» erkrankte, wie man das im 19. Jahrhundert zu nennen pflegte, ferner, dass seine Tochter Camilla unter Depressionen litt und sich 1936 im Zürichsee das Leben nahm. Was für ein Widerspruch. Warum muss einer, der so schöne Verse geschrieben und für seine Tochter einen so zärtlichen Namen ausgewählt hat, am Ende des Lebens an seniler Melancholie leiden und sein Kind auf so traurige Weise verlieren?

Das Leben steht voll im Zwielicht, ist permanent einsturzgefährdet, verletzlich und verletzend zugleich. Meyer fasste es zusammen in einem speziellen Wort: «Schwarzschattende Kastanie». Drumherum gestaltete er das gleichnamige Gedicht:

Bis unter deinem Laub erlischt
Die rätselhafte Flammenschrift,
Schwarzschattende Kastanie!

Jahre später. Ich war etwas älter, aber immer noch jung, war in Rom, um Theologie zu studieren, Gottesgelehrtheit. Ich sollte lernen, Antwort zu geben auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wie oft stand ich in der Mitte des Petersplatzes, hinter meinem Rücken den Palazzo Apostolico, stand vor Berninis Fontänen, schaute und lauschte und spürte, wie sich Meyer zu Wort meldete, wiederum mit einem Gedicht, unwiderstehlich, leiser zwar und doch mächtiger als das Plätschern der Brunnen.

Es war, als würden die Worte anfangen zu zerfliessen. Das Geheimnis des Lebens zitterte und hüpfte durch die zahllosen in der Sonne funkelnden, tanzenden Wassertropfen, wie Tränen im Gegenlicht:

Aufsteigt der Strahl, und fallend giesst
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfliesst
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Der Dichter habe sein Leben lang an diesen Zeilen gearbeitet. Nicht weniger als zwölf Fassungen! Das war harte Arbeit. Wie vor ihm, hinter dem ­Palazzo Apostolico, Michelangelo in der Sistina dämmerhohem Raum. Da! Wieder ein Gedicht, wieder C. F. Meyer. So ist das Leben. Hinhalten, aushalten, durchhalten. Und immer wieder, vielleicht am wichtigsten, innehalten. Weich wie Töpferton, hart wie Marmorstein. Was tuts? Darüber entscheidet ein Anderer:

Den ersten Menschen formtest du aus Ton,
Ich werde schon von härterm Stoffe sein,
Da, Meister, brauchst du deinen Hammer schon.
Bildhauer Gott, schlag zu! Ich bin der Stein.

Später, viel später – es muss gegen Ende des Jahrhunderts gewesen sein – fand ich mich wieder, mitten im Leben, mitten im Wald, oberhalb von Mariastein. Ich wusste nicht woher und warum, aber sie war da, unangemeldet, inwendig, auswendig, aus dem zartgrünen Blätterwerk der Buchen niedersteigend, unaufdringlich, beseligend. Einfach da war sie, die zweite Strophe des Gedichts «Jetzt rede du!»:

Und wieder such ich dich, du dunkler Hort,
Und deines Wipfelmeers gewaltig Rauschen –
Jetzt rede du! Ich lasse dir das Wort!
Verstummt ist Klag und Jubel. Ich will lauschen.

Wie war ich glücklich. So schön. So richtig. So wahr. Jetzt rede du! Ich lasse dir das Wort!

Ich will lauschen. Will mich öffnen für neue Räume. Auch dafür, dass ich am Tag nach dem Jüngsten Tag, wenn sich die Frage nach dem Sinn des Lebens erledigt haben wird, dass ich dann auf C. F. Meyer zugehen werde, um ihm zu danken. Danken für den Trost, den ich zur Zeit der grossen Fragen und der stummen Leere aus seinem Gedicht geschöpft habe. Danken für die Wonne, die ich empfand, als ich auf dem Petersplatz, seine Worte murmelnd, den aufsteigenden und niederfallenden Wasserstrahlen zuschaute. Danken für die unerwartete Freude, als mir im Zenit des Lebens etwas aufging: Ich will lauschen!

Heute nun, wo ich daran bin, alt zu werden, glaube ich zu wissen: Des Lebens Sinn verbirgt und offenbart sich in den Hohlräumen zwischen den Buchstaben, dort, wo es ganz still ist, dort, wo das Leben noch schlummert, um vielleicht eines Nachts erweckt zu werden. Darum diese kleine Hommage an all jene, die unermüdlich Gedichte schrieben und noch schreiben, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben, sie könnten in der nicht enden wollenden Wörterflut doch noch dem rettenden WORT, dem einzigen, auf die Spur kommen.

Peter von Sury (62) studierte nach der Matura in Solothurn, Bern und Fribourg Recht, Journalistik, Geschichte und Philosophie. Von 1976 bis 1982 studierte er in Einsiedeln und an der Benediktiner-Hochschule Sant’Anselmo in Rom Theologie. 1981 empfing von Sury durch den damaligen Basler Weihbischof Otto Wüst die Priesterweihe. Im Sommer 1982 übertrug ihm Abt Mauritius Seelsorgeaufgaben in den Pfarreien Hofstetten-Flüh und Rodersdorf. 1988 wurde von Sury Pfarrer von Hofstetten-Flüh und 1993 zum Dekan des Dekanates Dorneck-Thierstein gewählt. Am 6. Juni 2008 wurde er zum Abt von Mariastein gewählt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12

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