Vertrunken statt ertrunken

Aus aktuellem Anlass eine alte Anekdote aus der Hill’schen Familiengeschichte: Wie mein Urgrossvater sich vor hundert Jahren in Belfast vor dem sicheren Tod auf der Titanic rettete.

Glück im Unglück: Mein Urgrossvater Joe Cunningham mit seiner Ehefrau Martha. (Bild: zvg)

Wie mein Urgrossvater sich vor hundert Jahren in Belfast vor dem sicheren Tod auf der Titanic rettete.

Schiffsunglücke wie der Untergang der Titanic bleiben als Katastrophen epischen Ausmasses immer so lange abstrakt, wie sie einen persönlich nicht betreffen. Umso grösser das ungläubige Erstaunen, als ich einst im familiären Kreis aufschnappte, dass mein Urgrossvater «die Titanic gebaut hat».

Was zunächst seltsam klingt und skeptisch stimmt, ist keineswegs erstaunlich, wenn man die Umstände berücksichtigt: Denn es war beileibe keine gute Zeit, Ire zu sein, damals, Anfang des letzten Jahrhunderts, als sogar Grossbritannien erstmals begann, sich aus dem Hoheitsgebiet zurückzuziehen. Hier, wo zuvor nach der Kartoffelpest eine Million Menschen verhungert waren, wo die Iren von den englischen «Landlords» unterdrückt wurden, war die Armut allgegenwärtig und einigermassen anständig bezahlte Arbeit Mangelware.

Und so suchten viele ihr Glück in Belfast, der einzigen industrialisierten Stadt des Nordens, über der damals stets ein dicker Nebel aus Russ hing, wo gerade das grösste und wichtigste Prestigeobjekts des Königreichs, das glamouröseste Projekt seiner Zeit, entstand. Ein beträchtlicher Teil der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung Belfasts war damals über die anstrengende und alles andere als ungefährliche Werftarbeit in den Bau dieses Mega-Projekts involviert, das der gesamten Umgebung zum Aufschwung verhelfen sollte – darunter auch der junge Joe Cunningham.

Schiffgewordener Neuanfang

Wie so viele hoffte auch mein Urgrossvater, dadurch bald aus der Hölle von Ausbeutung, Alkoholismus und politisch-religiöser Unterdrückung auszubrechen, weg aus dem Armenhaus Europas, auf nach Amerika, ins gelobte Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo es den Grossteil der irischen Auswanderer hinzog, wo irgendwann mehr Iren lebten als in Irland selbst. Das Symbol dafür: ein Ticket für die Titanic, dieses Symbol für Fortschritt und Aufbruch zu neuen Ufern, diesen schiffgewordenen Neuanfang.

Dass die Geschichte der Titanic in Irland als kollektiver Komplex und ­nationales Trauma viele Jahrzehnte lang totgeschwiegen wurde, ist rück­blickend nachvollziehbar: Denn die gros­se Chance, das ganze Land zu adeln, entpuppte sich nicht nur als ­bittere Blamage, sondern wurde gar zur erschütternden Tragödie: insbe­son­dere im Norden der Insel, wo fast jeder einen Freund oder ein Familienmitglied an Bord wusste. Nicht einmal meine selige Grossmutter Molly, die sonst gerne über die Details der Hill-Cunningham’schen Familiengeschichte sprach, liess sich über die Tatsache, dass ihr Vater zu den Titanic-Erbauern gehörte, mehr als ein knappes «Ja» entlocken.

Lebensrettender Absturz

Dabei muss mein Urgrossvater Joe Cunningham sich damals, vor 100 Jahren, unbändig gefreut haben, als er unter nicht näher überlieferten Umständen eines der begehrten Tickets für die Jungfernfahrt erheischte, die ihm und seiner später ein Dutzend umfassenden Kinderschar die Aussicht auf ein besseres Leben versprach. Wie sich kurz darauf herausstellte, hatte das ­Familienoberhaupt ganz unverhofft Glück im Unglück.

Weil Joe, wie die meisten seiner Landsmänner, dem Alkohol nicht abgeneigt war, soll er der Legende nach das goldene Ticket nachts, bevor die ­Titanic aus dem Belfaster Hafen auslief, nach einem Tauschhandel in einer ­Hafenkneipe vertrunken haben – und rettete sich somit, als katholischer Working-Class-Passagier der dritten Klasse, der er gewesen wäre, vor dem sicheren Tod durch Ertrinken.

Die krude Moral der Geschichte: Manchmal kann Alkohol auch gut für die Gesundheit sein, ja, können einige Gläschen zu viel sogar Leben retten. In diesem Falle nicht nur das Leben meines Urgrossvaters, sondern auch das damals noch ungeborene Leben meiner Grossmutter und damit indirekt auch jenes dieser Autorin, die ohne ­jenen alkoholbedingten Absturz vor hundert Jahren diese Zeilen nie hätte schreiben können. In diesem Sinne: Cheers and thanks, good old man!

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06.04.12

Nächster Artikel