Verwahrungen: Es bleibt ein Restrisiko

Risikotäter und Verwahrungen sind ein Dauerbrenner – obwohl es nur wenige Hundert betrifft. Der Forensiker Marc Graf meint, es gebe keine 100-prozentige Sicherheit. Müssen wir mit einem Restrisiko leben?

Zwischen Verwahrten und anderen Gefängnissinsassen gibt es in der Praxis wenig Unterschied: Meist befinden sie sich in denselben Justizanstalten. (Bild: Keystone/Ennio Leanza)

Bis zu drei Monate dauert die Erstellung eines Gutachtens, eine 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht, meint Marc Graf, der psychiatrische Gutachten erstellt. Müssen wir mit einem Restrisiko leben?

Vor zehn Jahren kam die Abstimmung über «lebenslängliche Verwahrung» vors Volk – und wurde entgegen allen Empfehlungen deutlich angenommen. Das Gesetz ist nun seit 2008 in Kraft, es gibt jedoch nur ein einziges rechtskräftiges Urteil zu einer lebenslänglichen Verwahrung. Vier weitere Fälle sind an Gerichten hängig.

Vor einem halben Jahr folgte der nächste Streich von Anita Chabaan, die sich rigoros für ein härteres Justizsystem einsetzt. Sie nimmt nun die Gutachter ins Visier. Wenn ein Täter nach einer Entlassung wieder straffällig wird, soll künftig auch der betreffende Gutachter haften. Ein «Widerspruch zu allen Grundsätzen des Disziplinar- und Personalrechts», entgegnen die Rechtsprofessoren Benjamin Schindler und Regina Kiener in der NZZ.

(Radio SRF, 4.2.2014: «10 Jahre nach dem Ja»)

Der Widerspruch bei der lebenlänglichen Verwahrung besteht darin, dass in der Psychiatrie fast alle Täter als therapierbar gelten. «Straftäter werden in den seltensten Fällen so beurteilt, dass sie nicht therapierbar sind», sagt Marc Graf von der Forensischen Psychiatrie Basel. Die Wissenschaft tut sich schwer damit, etwas komplett auszuschliessen.

Marc Graf schreibt psychiatrische Gutachten für Risikotäter und weiss worauf es bei der Beurteilung ankommt. Das psychiatrische Gutachten ist die Grundlage für ein Gerichtsurteil. Wenn später etwas schiefläuft, stehen auch die betroffenen Gutachter in der Kritik.

So erging es Graf bereits einige Male, das letzte Mal beim Fall des Pädophilen Christoph Egger, der aus dem offenen Vollzug der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) in Basel flüchtete.

Bei Mord oder Vergewaltigung wird verwahrt

Der Gutachter gerät in solchen Fällen schnell in ein mediales Gewitter. Dabei könne ein Gutachten keine 100-prozentige Sicherheit garantieren, so Graf. Es sei vielmehr eine wissenschaftliche Prognose.

Graf zieht die Analogie zur Wetterprognose: «Die Wetterprognose kann Regen oder allenfalls ein Gewitter voraussagen, aber wo der Blitz einschlagen wird, kann sie nicht vorhersehen.» Die Wahrscheinlichkeit, dass es an einem bestimmten Punkt regnet, ist einfach um ein Vielfaches grösser, als dass genau dort der Blitz einschlägt. Ebenso ist die Eintretenswahrscheinlichkeit eines Diebstahls beispielsweise viel grösser als die eines Mordes.

Bei der Verwahrung geht es in erster Linie darum, die Öffentlichkeit vor einer straffälligen Person zu schützen. Der Täter wird nur verwahrt, wenn er eine schwere Tat wie beispielsweise Mord, Geiselnahme oder Vergewaltigung verübte und nicht zu erwarten ist, dass er sich durch eine Therapie oder ähnliches in absehbarer Zeit verändert.

Es gibt somit keine fixe Haftdauer, wie es bei anderen Massnahmen oder Freiheitsentzug der Fall ist. Der Verwahrte wird jedoch regelmässig auf Fortschritte überprüft. So kann es sein, dass beispielsweise ein Therapeut oder Gefängnispsychologe eine Veränderung des Geisteszustandes feststellt und aufgrund dessen ein neues Gutachten anfordert. Dann muss das Risiko einer bedingten Entlassung eingeschätzt werden. Wenn eine verwahrte Person dann entlassen wird, hat sie eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren, in denen sie noch intensiv beobachtet wird.

Lebenslängliche Verwahrung kaum ausgesprochen

In der Schweiz waren im Jahr 2013 rund 141 Personen in Verwahrung, nur vier davon waren Frauen. Der Anteil an Ausländern betrug knapp 28 Prozent (im Vergleich dazu – beim Gesamtbestand an Inhaftierten liegt der Ausländeranteil bei 74 Prozent).

2006 waren 213 Personen in Verwahrung, also deutlich mehr als 2013. Dies rührt daher, dass 2007 eine Revision des Strafgesetzes in Kraft trat und fortan einige Risikotäter in stationäre therapeutische Massnahmen verlegt wurden. Da mehr Täter in eine stationäre Massnahme eingewiesen werden, ist die Zahl der Verwahrungen seit einigen Jahren rückläufig (2011 waren es 157).

Unter einer stationären Massnahme versteht man im Volksmund «kleine Verwahrung». Es ist keine echte Verwahrung, es umschreibt die Therapie in einer geschlossenen Einrichtung.

Über 800 Täter befinden sich in einer «kleinen Verwahrung». Mit dem Gesetz, das 2007 eingeführt wurde, ist ein durchlässiges System entstanden. Die Gerichte können einen Straftäter von einer Verwahrung in eine stationäre Therapie schicken – und umgekehrt.

Derzeit sind die Richter sehr zurückhaltend mit Freilassungen. Stattdessen wird die «kleine Verwahrung» oft verlängert, was die Betroffenen de facto in die gleiche Lage bringt wie die dauerhaft Verwahrten.

(Regionaljournal Ostschweiz Radio SRF, 4.2.2014)

 

Gutachter im Visier

Die Praxis der Gutachter sei wissenschaftlicher geworden, sagt Graf. Es habe eine Professionalisierung stattgefunden, so dass zwei unabhängige Gutachter häufig zur gleichen Einschätzung kommen. «Das heisst, dass der Ermessensspielraum des Gutachters kleiner wird.»

Bei der Erstellung eines Gutachtens muss Graf alle verfügbaren Kenntnisse über den Täter einbeziehen. «Ich kann alles verwenden und tue dies auch.» Nach der Lektüre der Akten führe er Gespräche mit dem Täter, die zumeist im Gefängnis stattfinden. Dabei sei es wichtig, dass seine Rolle als Gutachter klar definiert sei.

«Ich muss den Täter zuerst darüber aufklären, was ich mit den Informationen mache und dass ich nicht für die Rechtsprechung zuständig bin.» Nach eingehenden Gesprächen über die Biografie, kommt Graf auf das eigentliche Delikt zu sprechen.

Das ist der wichtigste Teil des Gesprächs. Weicht der Täter aus? Verstellt er sich? Graf versucht mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, den Straftäter zu durchschauen. 

Am Ende steht ein 100-seitiges Gutachten

Es sei ein sehr zeitaufwendiger Prozess, bis ein solches Gutachten erstellt sei, erklärt Graf. Das Erstellen eines Gutachtens kann sich über drei Monate erstrecken. Bei einem komplexen Fall liegt der Zeitaufwand des Gutachers bei zirka 10 bis 15 Stunden – ein grosser Zeitrahmen für einen psychiatrischen Spezialisten.

Am Ende kommt ein Gutachten dabei heraus, das bei schweren Delikten zwischen 50 und 80, gelegentlich auch über 100 Seiten umfasst – eine Unmenge an Details über das Verhalten und die Persönlichkeit des Täters. Und schliesslich die Gretchenfrage: Ist es wahrscheinlich, dass der Täter nochmals straffällig wird?

Dann liegt der Ball beim Gericht. Aufgrund des psychiatrischen Gutachtens muss ein Rechtsurteil gefällt werden. Wird eine Verwahrung ausgesprochen, wird der Delinquent in ein Gefängnis oder eine geschlossene Strafanstalt eingewiesen und dort verwahrt.

Rein praktisch gesehen, gibt es zwischen normalen Häftlingen und Verwahrten keine Unterschiede. Sie haben denselben Tagesablauf, spielen zusammen Tischtennis und essen in derselben Gefängniskantine.

Der Unterschied liegt im Formalen. Während ein normal Inhaftierter seine Tage bis zur Entlassung zählen kann, verbringt der Verwahrte seine Gefängnistage – ohne zu wissen, ob und wann er wieder entlassen wird.

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