Vollkontakt!

Mit neuen Gesichtern und vor allem sehr viel frischem Elan und Energie will das Basler Schauspiel wieder zur bedeutenden kulturellen Instanz werden.

Auseinandergedriftet: Simon Solberg (rechts) verlässt Basel, Martin Wigger und Tomas Schweigen bleiben. (Bild: Peter Schnetz)

Mit neuen Gesichtern und vor allem sehr viel frischem Elan und Energie will das Basler Schauspiel wieder zur bedeutenden kulturellen Instanz werden.

«Wir werden das Theater nicht neu erfinden», sagt Martin Wigger, bisheriger Chefdramaturg und neu Teil des neuen Leitungstrios des Basler Schauspiels. Doch wer ihm und seinen beiden Co-Leitern Simon Solberg und Tomas Schweigen zuhört, erhält den Eindruck, dass es gerade das ist, was die Neuen vorhaben. In den Ausführungen der Theaterleute sprudelt es nur so vor Energie und Ideen, und wenn von Aufbruchstimmung die Rede ist, dann klingt dies durchaus überzeugend. Und beinahe etwas überrascht nimmt man zur Kenntnis, dass sogar so oft gehörte Sätze wie «Wir wollen, dass das Theater für den gesellschaftlichen Diskurs in dieser Stadt wieder zur kulturellen Instanz wird» aus einem Munde von Simon Solberg ganz und gar nicht abgedroschen klingen.

Verlegenheitslösung als Chance

Mit dem Leitungstriumvirat Wigger/Solberg/Schweigen läutet das Theater Basel ab der Spielzeit 2012/13 eine neue Schauspielära ein. Der Leitungswechsel an und für sich ist schon einmal erfreulich. Und durchaus notwendig, denn in den sechs Jahren unter der bisherigen Spartenleitung von Elias Perrig wirkte das Sprechtheater über weite Strecken ziemlich blass und zuletzt oftmals auch ideenarm.

In der personellen Zusammensetzung ist der Neubeginn, soweit man es jetzt schon beurteilen kann, eine gute Lösung – obschon sie auf den ersten Blick wie eine Verlegenheitslösung ­daherkommt. Weil im vergangenen Sommer nicht klar war, wie sich das Theater Basel aus dem finanziellen Schlamassel nach der verlorenen Subventionsabstimmung im Baselbiet hätte retten können, musste Theaterdirektor Georges Delnon die ursprünglich de­signierten neuen Spartenleiter – die Namen erfuhr man nie – ziehen lassen und nach internen Lösungen suchen. Also ernannte Delnon, der selber die Opernleitung übernimmt, den amtierenden Chefdramaturgen Martin Wigger zum neuen Schauspielchef. Und der holte sich dann sogleich zwei junge Regisseure an seine Seite.

Eigenständige Bühnenhandschrift

Ein mutiger Entscheid, denn Martin Wigger wählte zwei Exponenten, die im Basler Schauspiel und auf anderen Bühnen Herausragendes geleistet haben, die sich aber beide durch eine überaus eigenständige Bühnenhandschrift hervortun, welche sich vom konventionellen Abonnementstheater abhebt. Simon Solberg ist ein Regisseur, der seine ­«Sozialisation mit dem Hip-Hop» nicht verbirgt und mit einem multimedialen Feuerwerk an Ideen, mit Händen und Füssen, Verstand, Schalk und Herz ebenso viel Spass zu bereiten wie auch Betroffenheit auszulösen weiss. Zuletzt hat er mit seiner rasanten «Volksfeind»-Inszenierung für einen der wenigen Höhepunkte der auslaufenden Schauspielsaison gesorgt.

Mit Tomas Schweigen ergänzt ein Theatermann aus der freien Szene das Triumvirat. Mit seiner Truppe Far a Day Cage hat er eine originelle und spannende Bühnensprache entwickelt, die er mit seiner Bühnenadaption von Otfried Preusslers «Krabat» auch auf die Basler Stadttheaterbühne zu übertragen wusste. Beide regieführenden Co-Leiter stehen mit je drei Inszenierungen auf dem Spielplan, werden aber, so das Versprechen, mit zahl­reichen, jeweils aktuell angesetzten Nebenproduktionen auch ausserhalb der beiden Theaterbauten für theatrales Leben sorgen.

Diese personelle Konstellation, ergänzt durch die Tatsache, dass Schweigen seine freie Truppe Far a Day Cage quasi als Group in Residence mit an Bord holt, deutet auf einen ziemlich radikalen Neubeginn hin. Umso überraschter ist man dann aber, wenn man sich den Spielplan der kommenden Saison anschaut.

Eine Prise Rock ’n’ Roll

Auf den ersten Blick sieht dieser nach landläufigem Abonnementstheater aus: mit Schiller («Don Carlos»), Goethe («Die Leiden des jungen Werther»), Strindberg («Ein Traumspiel»), Frisch («Biografie. Ein Spiel»), Tolstoi («Anna Karenina»), mit einer Bühnenadaption des Bestsellerromans «Angst» von Robert Harris und dem Märchen «Zauberer von Oz» als Kinderproduktion.

Gut, auf dem Spielplan stehen auch «Like a Rolling Stone», «Vaudeville Open Air» und «Expats: Eidgenossen in Shanghai» – Titel, die auf dem Papier etwas Rock ’n’ Roll, Spass- und Dokumentartheater versprechen. Aber projektartiges Theater dieser Art findet man auch auf Spielplänen weniger ambitionierter Bühnen. Dazu kommt, dass mit «Der Park» des neuen Hausautors Gabriel Vetter nur gerade eine Uraufführung eines eigentlichen dramatischen Textes auf dem Spielplan steht.

«Wir wollen in der Wahl der Stoffe und Themen durchaus auch Populäres bieten», sagt Wigger, «diese klassischen Theaterstoffe dann aber mit jungen und frischen Regiehandschriften kombinieren.» So kommt es dazu, dass Goethes Briefroman «Werther» einem Regisseur anvertraut wird, den man nicht automatisch mit Sturm und Drang in Verbindung bringt: Thom Luz. Der junge Zürcher hat sich zum einen als interessanter Exponent der freien Theaterszene hervorgetan, bekannter ist er indes als Sänger und Gitarrist der Schweizer Indie-Band My Heart Belongs to Cecilia Winter.

Auch bei Solbergs «Don Carlos»-Inszenierung droht sicher keine Konfrontation mit musealem Klassikertheater – ebenso wenig wie bei der Kombination von Regisseur Schweigen mit Strindbergs Stationendrama «Ein Traumspiel». Dabei soll es aber nicht um das Unkonventionelle um des Unkonventionellen willen gehen. «Mir geht es darum, auch in den klassischen Dramen das Schmerzzentrum freizulegen, also das, weswegen der Autor das Stück überhaupt geschrieben hat», sagt Solberg.
Ein Spielplanmotto gibt es übrigens nicht. Zumindest nicht offiziell. Für Solberg lautet die persönliche Devise «Vollkontakt», während Wigger die Spielzeit unter das Motto «Solberg/Schweigen» gestellt hat.

Wichtig ist dem neuen Leitungsteam neben den Abo-Positionen im Spielplan das Nebenprogramm, das so nebensächlich nicht sein wird. Hier wollen die Theaterleute die Devise «Vollkontakt» im Sinne von Dialog und Transparenz auch ganz wörtlich verstanden wissen. «Wir werden einen Lkw ausstatten, mit ihm nach Baselland fahren und als ‹performative Spedition› auf dem Dorplatz in Sissach oder Pratteln ein Stück spielen, für das wir nur wenige Tage vorher Werbung machen», kündigt Solberg an.

Engagement rund ums Theater

Wigger ergänzt, dass man das Theater auch inhouse beleben möchte: zum Beispiel mit der Einrichtung einer «Hafenkneipe» im Foyer, in der das Publikum am Rande von Bei- und Kurzprogrammen auch mit dem Ensemble in Kontakt treten kann. Weiter will das neue Basler Schauspiel unter dem Arbeitstitel «Ungeliebt und ungefragt» in Cafés und Kneipen der Stadt spontan kurze Ausschnitte aus aktuellen Inszenierungen vorführen. Und mit der Reihe «Bei Freunden» soll das Publikum die Möglichkeit erhalten, einzelne Schauspiel-Acts zu sich nach Hause zu holen.

Schliesslich will die neue Schauspielleitung im Theaterclub K6 einen öffentlichen Thinktank einrichten. Geplant ist ein offenes Dramaturgiebüro mit einer Arbeitsecke für die Schauspielleitung und den Hausautor sowie einem Seminartisch, an den sich auch Leute von aussen hinsetzen können, um Anregungen einzubringen oder an Konzeptionsgesprächen teilzunehmen.

Personelle Umwälzungen

Einen ziemlich radikalen Neubeginn vollzieht das Schauspiel auch personell. So wird mit Ausnahme von Wigger die gesamte Dramaturgie ausgewechselt. Zwei Drittel des 22-köpfigen Schauspielensembles werden neu besetzt, und auch in der Regie werden mit Ausnahme der beiden Leitungsmitglieder Solberg und Schweigen sowie Amélie Niermeyer und Antje Schupp alles neue Köpfe tätig sein – darunter die erfolgreiche Filmemacherin Bettina Oberli («Die Herbstzeitlosen»), die erstmals im Theater inszenieren wird, aber auch erfahrene und etablierte Theaterregisseure wie Volker Lösch oder Niklaus Helbling.

Zum Schluss noch etwas Neues, das so neu aber gar nicht ist: Erstmals seit Jahren soll das Schauspielhaus wieder einmal seine Flexibilität als Bühnenraum unter Beweis stellen. Denn aus Kostengründen war der Theaterraum, der theoretisch etliche Variationen der Bespielung zulassen würde, in den letzten Jahren nur noch als konventionelle Guckkastenbühne zu erleben. Das alles klingt vielversprechend. Sehr sogar. Aber natürlich wird man erst an den Taten ermessen können, ob es den Neuen gelingen wird, das Basler Schauspiel aus der Lethargie zu reissen, in die es in den letzten Jahren versunken ist.

Details zum Spielplan 2012/13 gibt es auf tageswoche.ch unter der Rubrik «Theater» oder direkt von der Quelle auf www.theater-basel.ch

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.05.12

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