Vom Wurm in der Lebens­ursache und dem Tod der Sinnfrage

Es gibt ein Alter, da tötet man aus Spass an der Macht oder Neugier auch mal ein kleines Tier. Bis man erkennt, dass der Sinn des eigenen Lebens nicht den Unsinn aller anderen bestimmt.

Es gibt ein Alter, da tötet man aus Spass an der Macht oder Neugier auch mal ein kleines Tier. Bis man erkennt, dass der Sinn des eigenen Lebens nicht den Unsinn aller anderen bestimmt.

Hazel Brugger

Der erste mutwillige Tod, dessen Rolle ich spielte, galt einem langgewachsenen Regenwurm, den ich aus der Erde zerrte und entzweiriss. Als das Kopf- im Gegensatz zum Fuss­ende wider alles Erwarten nicht mit dem Winden und Zucken aufhören wollte, galt meine Enttäuschung nicht etwa der Feststellung, dass die eine Hälfte hatte sterben müssen, sondern vielmehr der Tatsache, dass Kopf, Mund, Hals und Gürtel des Wurmes dem Tod, also mir, zu trotzen schienen.

Das war so nicht geplant gewesen, und ich entschied mich dazu, die ­lebenden Überreste mit einem Stein zu zermalmen und der Wiese zurückzugeben. Ich sah mich – dem konsequenten Exorzisten oder Pferderennbahn-Stammmetzger gleich – jedoch weder als tötende noch erhabene, ­sondern viel eher gütige und gnadenbringende Kraft; eine Art Gerechtigkeit. Denn schliesslich war ich es ja gewesen, die das arme, dumme, wirbellose Würmchen an den Rand der Lebenserwartung und über die Klippe der Todeserwartung hinausgestossen hatte. Eine heldenhafte, ja fast schon heilige Tat in den Augen einer Dreijährigen, die noch immer fest daran glaubt, dass das Nichts nicht mehr sein kann als der Tod und das, was in die Hand passt, wenn man sie ganz, ganz fest zur Faust ballt.

Knusprig braune Frösche

Mit den Jahren nahmen allmählich auch die Ausgereiftheit der Methoden und die Freude an Schöpfung und Zerstörung zu. Ich züchtete Flusskrebse heran und päppelte Kaulquappen zu dickschenkligen Babyfröschen hoch, pflanzte Verwandte der Venusfliegenfalle und sammelte die ausgestossenen Bergmolche von der Kellertreppe.

Ich gab mir grosse Mühe mit dem Einrichten der jeweiligen Terrarien, Aquarien und Töpfe, war dann aber immer wieder schnell gelangweilt und erlangte mein Entzücken über das neue Hobby erst beim leise-dramatischen Ableben meiner Schützlinge wieder zurück. Die Flusskrebse klebten wasserlos und verkalkt an den glasigen Wänden ihres Käfigs, Frösche und Pflanzen waren knusprig braun. Und beim Bergmolch war es wohl nicht einfach der sprachlose Tod, sondern schlicht der atemlose Suizid gewesen, der ihn dahinraffte.

Eine fehlende Aussicht auf das wechselwarme Reiben am feuerroten Bauch des anderen Geschlechts war auch für ihn zu viel oder eben zu wenig des Guten gewesen. Sein innerer Zustand von Stalingrad, der Kessel brannte und er brannte allein. Die mir von meinen Eltern aufgebrummte Dia­gnose lautete fehlendes Verantwortungsbewusstsein kombiniert mit allumfassender Unzurechnungsfähig­keit – kurzum Kindsein –, und sie beschlossen, mir Tiere und andere Lebewesen fortan erst einmal in Bücherform näherzubringen. Unfair, wie ich fand. Denn schliesslich, so war meine Meinung, sollte man ein Leben, das man gerettet hatte, auch jederzeit zerstören dürfen. Hauptsache, irgendein Zyklus wird angekurbelt. Im Grunde genommen fühlte ich mich also als Papst und missverstanden – sich selbst der ewigen Jungfräulichkeit verschreiben, anderen dann aber den Gebrauch von Kondomen verbieten und dem unvermeidlichen Dahinsiechen beschämt und tat- und machtlos zusehen.

Irgendwann macht man dann ja doch selbst Kinder oder sich zumindest ­Gedanken darüber. Presst sie je nach Geschlechterrolle in ein men­s­truales Rosa, unterkühltes Blau oder progressiv-eitriges Senfgelb und versucht sich dann von Weihnachtsessen zu Sommerferien und wieder zurück zu Weihnachtsessen durch den zeit­losen Brei zu mogeln. Bis die Brut das Terrarium verlassen und eigene Eier gelegt hat.

Um der Evolution vorzugaukeln, man verdiene auch nach der Weitergabe des genetischen Materials noch einen Platz an der Sonne, macht man Rückentraining, schluckt weisheitszahngrosse Vitamintabletten, trainiert für den Marathon, wird ein Herz auf zwei Beinen. Dazwischen ist zwar nicht mehr viel los, aber man hat seine obligaten einskommafünf Eizellen ja befruchtet und glaubt noch an die Demokratie und an den Zinseszins.

Jetskifahren und Volksdrogen

Man merkt, dass man noch Spanisch lernen könnte, Island sehen, Jetskifahren. Oder man entdeckt die Volksdrogen, dröhnt sich zu, legt all seine Hoffnung ins Jenseits und den Geist in die speckigen Hände des Glaubens. Die Sinnsuche wird verschoben, das vollständige Finden und die Selbstständigkeit bleiben aus. Fürs Würmertöten kriegt man kein Dessert und verliert den Platz im Paradies.

Das erste Bedauern eines möglichen Mords überkam mich mit acht Jahren, als ich die gehütete Schulzimmermaus Frederick auf meine Kosten tot glaubte. Der schwarz-weisse Mäuserich hatte aufgehört, sich zu bewegen, ausgerechnet als ich mit dem Füttern an der Reihe war. Die verurteilenden Blicke, die mir von den Mitschülern aufgebrummt würden, ängstigten mich mehr als jedes Märchen über Höllenfeuer. Vernichtendes Funkeln hinter pflasterbeklebten Brillengläsern hervor, böses Zischen durch frisch entstandene Milchzahnlücken.

Kein Schmerz ist so gross wie der in unmittelbarer Erwartung, und der Welpenschutz ist alleine unter Junghunden nichts wert. Tot war tot, war natürlich und unausweichlich und bestimmt nicht Teil meiner kindlichen Verantwortung. Doch so sehr ich meine Mitschüler auch von der Unausweichlichkeit des Geschehenen zu überzeugen versuchte – ein vehementes Abstreiten eines Mäuse­himmels war vermutlich nicht gerade förderlich –, es galt, den Botschafter, sprich mich, zu bestrafen.

Maus mit Mangelverdauung

Diese so in die Maus verliebten Kinder würden noch wachsen und stärker werden und Geburtstagsfeste ohne mich feiern wollen. Es war, als wäre das Dasein des Nagers aus Gründen des funktionierenden Zusammenlebens überhaupt erst berechtigt und die Liebe, die ihm galt, Rechtfertigung eines ewigen Lebens für ihn.

Lieben und leben lassen, Unsterblichkeit ist ein Popularitätskontest. Eine schöne Zerstörung der Balance also, hätte ich ihn auf dem Gewissen gehabt, unverzeihlicher als jede Erbsünde.

Zum Glück litt Frederick aber nur an einer generellen Faulheit kombiniert mit Mangelverdauung und Überforderung mit der Gesamtsituation. Er stand also bald wieder von den Toten auf, furzte seinen kleinen Mäusefurz und befreite mich von meinem Platz auf der Schuldenbank. Nie wieder tötete ich aus Spass an der Macht oder der Neugier, das perfekte Verbrechen ist unmotiviert, und der Sinn des eigenen Lebens bestimmt nicht den Unsinn aller anderen.

Heute jedenfalls halte ich an Regentagen an und steige vom Fahrrad, um die orientierungslosen Schnecken und verwirrten Würmer vom Asphalt zurück in den rettenden Busch zu manövrieren. Wenn ich die Kleinsttiere schon nicht überfahren kann, so soll es wenigstens auch niemand sonst an meiner Stelle tun. Ob ich deswegen nachts besser schlafen kann, weiss ich nicht. Aber man weiss ja ohnehin nie, ob man beim Aufwachen plötzlich selber in zwei Teilen da liegt – und sollte eines der Enden dann am Ende doch noch weiterzappeln, bleibt immer noch die stumme Hoffnung auf den Stein von oben.

Hazel Brugger (19) ist Slam-Poetin. Den Sinn des Lebens sucht sie demnächst an einer Universität, wo sie ein Studium in Philosophie und Physik be­ginnen wird.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12

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