Warum Heucheln nicht das Problem ist.
Zur bürgerlichen Leier gehört es, den Wertezerfall zu beklagen, die Rückkehr zu Anstand und Sitte zu beschwören, Gier und Neid zu verdammen – und im konkreten Fall die Parole «Nein zur Erbschaftssteuer» herauszugeben und mit dem Verlust der Attraktivität des Standorts Schweiz zu drohen, sollte das Volk die 1:12-Initiative annehmen. Links ist es, in Strukturen zu denken und Gerechtigkeit und Freiheit nicht vor allem als Folge von individuellen gerechten Werken und freiheitlicher Gesinnung zu betrachten.
Zum bürgerlichen Bekenntnis gehört der Glaube an die segensreiche Wirkung der «unsichtbaren Hand» von Adam Smith: Es reicht, wenn ein jeder nach seinem eigenen grösstmöglichen Nutzen strebt. «Er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag. (…) Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.»
«Was tun?» (Lenin)«Weiss ich?» (Schneider)
Mandeville hat dieses Prinzip in seiner «Bienenfabel» satirisch überspitzt, indem er zeigt, wie aus «private vices public benefits» entstehen, indem nämlich zum Beispiel die bei einer Randale zu Bruch gegangenen Fensterscheiben dem Glaser zu Arbeit und Lohn verhelfen. Man könnte auch sagen: Was hilft es, gegen die Gier der Manager zu wettern, wenn diese dafür sorgt, den Ertrag der Aktionäre und das Bruttosozialprodukt zu steigern?
Die Linken haben traditionellerweise gegen die Wirtschaftsliberalen argumentiert, dass die unsichtbare Hand des Marktes zu einer intolerablen gesellschaftlichen Ungleichheit geführt hat, die durch politische Regeln gemindert oder gar aus der Welt geschafft werden müsse. Dabei hingen sie freilich selber einer impliziten Theorie der unsichtbaren Hand an: Die Gesellschaft, nicht das Individuum müsse verbessert werden. Individuelle Güte, so argumentiert etwa Brecht in «Der gute Mensch von Sezuan», sei ruinös in einer schlechten Gesellschaft. Der gute Markt, so die Wirtschaftsliberalen, bringt Wohlstand für alle. Die gute Gesellschaft, so die Linken, schaffe erst die Möglichkeit für den Menschen, sich von seinen besten Seiten zu zeigen. Dieser linke Glaube hat angesichts des real existierenden Sozialismus der Nachkriegszeit, und vor allem mit dem Aufkommen der Frauenbewegung einerseits und der Ökologiebewegung andererseits, Risse bekommen. Das Private wurde politisch und das Politische (auch) privat. Der Sieg gegen die Vorherrschaft der Männer sollte nicht mehr auf den Sankt-Nimmerleins-Tag der siegreichen Revolution verschoben werden, und mit der Rettung der Umwelt sollte jeder bei sich im eigenen Haushalt beginnen.
Der Mensch ist überfordert und ratlos
Und da stehen wir nun, wir armen Toren mit der privatisierten Verantwortung, die unsere Kräfte bei Weitem zu übersteigen scheint. Der gute Mensch ist überfordert und ratlos: Jede Konsumentscheidung bewusst im Sinne globaler Verantwortung zu treffen, den ökologischen Fussabdruck zu minimieren, indem wir auf Flugreisen und das Auto verzichten, den Müll zu trennen, unnötige Verpackungen zu meiden, quecksilberhaltige Energiesparlampen richtig zu entsorgen und möglichst nur im Quartierlädeli einzukaufen und die sympathische kleine Buchhandlung zu unterstützen, auch wenn sie nicht am Weg liegt.
Der Rest ist nicht Schweigen, sondern kluges Wählen und Abstimmen
Je zwanghafter man veranlagt ist und je genauer man es nimmt, desto mehr kann das «richtige Leben im falschen» (Adorno) zum Vollzeitjob ausarten. Denn auch jenseits des ökologisch richtigen Lebens haben der aufmerksame «Kassensturz»-Zuschauer und «K-Tipp»- und «Saldo»-Leser einiges zu tun: in die günstigste Krankenkasse zu wechseln (lieber Gott, schenke uns eine Einheitskasse!), sich über die Sparsamkeit seiner Elektrogeräte zu informieren, Elektrosmog zu meiden und aus den vielen tollen Angeboten der Mobilfunkanbieter das optimale zu wählen. Und zwar das alles nicht ein für allemal, sondern immer wieder neu. Keine «unsichtbare Hand» in Sicht, die uns dabei helfen könnte.
Ziemlich hoffnungslose Lage
Im Gegenteil, die «öffentliche Hand» kapriziert sich lieber darauf, öffentliche Verantwortung durch Präventions- und Aufklärungskampagnen zu privatisieren, als selber tatkräftig anzupacken: Anti-Littering-Kampagnen versus eine zweite Müllabfuhr in der Woche sowie grössere Abfalleimer.
Die Lage scheint nicht unbedingt todernst, aber doch ziemlich hoffnungslos. «Was tun?» (Lenin) «Weiss ich?» (Peter Schneider) Naja, ein bisschen ahne ich jedenfalls: Dass es nicht schlecht ist, wenn jeder für sich so gut ist, wie er es vermag. Dass die Forderung, individuelle Verantwortung für Zustände zu übernehmen, welche diese Verantwortung überschreiten, nicht zu einer besseren Welt, sondern lediglich zu einer gereizteren Gesellschaft führen, in welcher man sich wechselseitig mit Vorwürfen und Forderungen überzieht. «Wenn nur jeder selber …»: So funktioniert die Welt nicht, sondern nur das schlechte Gewissen. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern kluges Wählen und Abstimmen. Und da ist tatsächlich jeder Einzelne gefordert. Amen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.05.13