Von wegen Drachen-Energie! Auch Kanye West ist ein Sklave des Zufalls

Ist uns wirklich alles möglich, wenn wir nur fest daran glauben? Knackeboul nimmt sich Kanye West und andere Irrläufer der Motivationspsychologie zur Brust.

Wäre wirklich jeder selbst seines Glückes Schmied, würde es diese Hüpfburg mit deinem Konterfei hoffentlich nicht geben, lieber Kanye.

Kanye West behauptete neulich, in 400 Jahren Knechtschaft hätten die Sklaven die Wahl ­gehabt, die Leibeigenschaft zu beenden. Einen meiner Lieblingsrapper, und vor allem Lieblingsproduzenten, hats nun also definitiv «genommen». Der Mann neigte zwar schon früher zu Verhaltensauffälligkeit, doch seine neusten ­Eskapaden auf Twitter sind weit mehr als Promo-Provokationen.

Zuerst beteuerte er in mehreren Tweets seine Liebe zu Trump («We both have this dragon energy»). Als dann ein Grossteil seiner Anhängerschaft Sturm lief – weil zu grossen Teilen schwarz und somit eher Leidtragende dieser grüsligen DrachenEnergie –, holte er zu einem Rechtfertigungsversuch aus. In einem Interview mit «TMZ» sagt er: «Wenn man von 400 Jahren Sklaverei hört. 400 Jahre?! Das klingt nach einer Wahl.» Die Sklaven hätten sich ja auch mal dagegen entscheiden können.

Die Diktatur des «Du kannst, wenn du es nur willst»

Dieser Text könnte nun einmal mehr von Trump handeln, von Rassismus oder davon, dass sich inzwischen das Welt­geschehen an Kurznachrichten von kleinhändigen Sexgrüseln oder durchgeknallten Rap-Stars orientiert. Ich möchte aber lieber auf die Aussage fokussieren, Sklaverei sei gewählt.

Das klingt wie ein Spruch aus dem ­Ministry of Truth in Orwells «1984». Es könnte in ähnlicher Form auch unter dem letzten Instagram-Post des Fitnessmodels von nebenan stehen. So verachtenswert der Spruch klingt, so verbreitet ist die ­Akzeptanz dieses Denkens. Es ist dieses verlockend klingende, aber ätzende «Jeder ist seines Glückes Schmied», das da in ­Kanyes Aussage mitschwingt und das uns aus Social Media, Pop-Songs und Motivationsvideos entgegenschwappt und zu verschlingen droht.

Gerade in der amerikanisch geprägten Unterhaltungsindustrie und auf Social Media, allen voran Instagram, herrscht eine Diktatur der «Du kannst alles schaffen, du musst es nur wollen»-Mentalität.

Was gut und motivierend klingt, ist in meinen Augen eher destruktiv, bedrückend und kann zu fatalen Fehlschlüssen Kanye’schen Ausmasses führen. Kanye West glaubt in seinem Selbstverständnis als Rap-Gott, er habe sich alles selbst erarbeitet, er habe es sich verdient und jeder könne das schaffen. Also Reichtum, Erfolg und Beliebtheit.

«Jeder kann das erreichen! Du musst dich nur von deinen selbst angelegten Fesseln befreien! Sprenge die Ketten deiner Unsicherheit und tritt hinaus in die Welt der Macher und Erfolgreichen.» Ich merke gerade, dass ich es zum Motivations­guru schaffen könnte, wenn ich es nur ­genug fest wollte.

Nicht jeder ist seines Glückes Schmied, sondern jeder ein Produkt des Zufalls – dem Chaos ausgeliefert.

Was Herr West und Hollywoodsternchen, Popstars und Influencer vergessen, ist, dass dummerweise nicht jeder ein ­Genie ist, nicht jeder ein Topmodel und dass nicht jeder potenzielle Zwei-Akkord-Hit-Kandidat entdeckt wird. Kanye hat das grosse Glück, mit überdurchschnittlicher Begabung geboren worden zu sein. Zudem wurde er entdeckt und gefördert.

Hymne der Selbstermächtigung

Natürlich hat er viel investiert. Aber dass er und nicht die ebenso talentierte junge Tänzerin aus Kasachstan im Showbiz-Olymp sitzt, hat vor allem mit Glück, also mit Zufall zu tun. Mit dem Ort der ­Geburt, mit Begegnungen, mit Möglichkeiten, wohl auch mit dem Geschlecht.

Denn nicht jeder ist seines Glückes Schmied, sondern jeder ein Produkt des Zufalls – dem Chaos ausgeliefert. Nur klingt das einfach zu abstrakt und zuwenig egozentrisch. Deshalb gibt es diese Kalendersprüche und Instagram-Weisheiten: «God has a purpose for everyone.» Oder: «Find your inner light and make it a torch.» (Den hab ich grad selbst erfunden, der ist fast zu gut.) «No pain no gain» und so weiter und so fort.

Alle singen diese bescheuerte Hymne der Selbstermächtigung. Auch manche meiner Vorbilder. Kaum ein Interview wird geführt, ohne dass einer rumlabert, wie speziell er sei, wie er sich selbst aus der Scheisse gezogen habe und wie das auch alle seine Fans könnten. Selber gönne ich mir ab und zu ein kräftiges «Träume nicht dein Leben, sondern halte deine Fresse» als Antiserum.

Manchmal hat Gott einen Gastauftritt in dieser Auslegung der Realität, ansonsten reicht das gute alte «law of attraction», das Gesetz der Anziehung: Was du denkst, wird auch eintreten. Du steuerst alles mit deinen Gedanken. Im Internet kursieren etliche Videos, die diese These untermauern. Zusammenschnitte von Stars, die sich dazu äussern. Wie zum Beispiel Jim Carrey, der als aufgehender Stern einen Millionen-Dollar-Vertrag imaginierte und ihn – zack – ein paar Jahre später im Sack hatte. Nur weil er daran glaubte.

Dieses Denken ist leistungsorientiert, es ist neoliberal, es ist esoterisch und es ist gefährlich.

Fast jeder Star hat so eine Geschichte, und jeder hat den Erfolg durch einen Wechsel in der Denkart erzwungen. Gemerkt haben sie es scheinbar aber meist erst, als sie Millionäre, Oscar-Preisträger oder Olympiasieger waren. Von all den Millionen anderen, die an sich geglaubt und alles gegeben haben, hört man nichts. Sie haben es eben nicht ganz geschafft. Haben wohl zu wenig an sich geglaubt.

Diese letzten Sätze sollten meine Abneigung gegen dieses Gesetz der Anziehung und gegen die Motivationssprüche-Manie erklärt haben. Dieses Denken ist leistungsorientiert, es ist neoliberal – «Get rich or die tryin’» – es ist esoterisch und es ist gefährlich. Es setzt Menschen unter enormen Druck, es zeichnet ein falsches Bild der Realität.

Wenn jeder alles schaffen kann, solange er fest genug daran glaubt, wenn man alles mit seinen Gedanken anziehen oder weg­stossen kann: Was ist dann mit all den Menschen, die an Krebs leiden, mit den Depressiven, mit den Armen, mit den Hungernden, mit den Sklaven? … Kanye?

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