«Vor dem Ende der Schulzeit hatte ich Angst»

Nach der Schule stehen viele jugendliche Sans-Papiers vor dem Nichts. Daran ändert auch eine neue Regelung des Bleiberechts wenig. Zwei Betroffene berichten von ihren Erfahrungen.

(Bild: Mara Wirthlin)

Jugendliche Sans-Papiers können für die Dauer einer Berufslehre eine befristete Bewilligung beantragen. Doch in der Praxis lässt sich diese neue Regelung nur schwer umsetzen. Betroffene Jugendliche erzählen, weshalb der Zugang zur Ausbildung für sie so wichtig ist.

Seit Februar des vergangenen Jahres können jugendliche Sans-Papiers für die Dauer einer Ausbildung befristetes Bleiberecht beantragen. Doch in der Praxis ist die Regelung kaum umzusetzen, wie die Nationale Plattform für Sans-Papiers am Montag an einer Medienkonferenz erklärte: Einerseits sind die Anforderungen an die betroffenen Jugendlichen sehr hoch, anderseits müssen sie schon bei der ersten Anmeldung zum Verfahren ihre Identität offenlegen – und davor fürchten sich viele der papierlosen Jugendlichen.

Zudem ist das Verfahren auch für die Lehrbetriebe riskant: Diese müssen den Lehrvertrag unterzeichnen, und erfahren oft erst über ein Jahr später, ob der Lehrling bleiben kann oder nicht. Viele Jugendliche, die von dieser Ausbildungsproblematik betroffen sind, trauen sich nicht öffentlich von den Problemen und ihrem Leben zu erzählen. Auch manche Lehrbetriebe, die jugendliche Sans-Papiers einstellen wollen, wollten diese öffentliche Aufmerksamkeit nicht. Zwei Jugendliche haben an der Medienkonferenz eine Ausnahme gemacht, einer davon anonym.

Abbas, der eine weisse Maske trägt und seinen richtigen Namen nicht verrät, hat Angst, dass sein Auftritt negative Auswirkungen auf sein Gesuch haben könnte. Deshalb will er seine Anonymität wahren. Er reichte seinen Antrag auf befristetes Bleiberecht vor drei Monaten ein, seither wartet er auf eine Antwort, obwohl er seine Lehre bereits angetreten hat.

Die Bewilligung zu verlieren, war ein Schock

Abbas kam vor fünf Jahren mit seinen Brüdern und seinem Vater, der eine Schweizer Frau geheiratet hatte, von Saudi Arabien in die Schweiz. Er besuchte drei Jahre lang die Sekundarschule und zwei Jahre lang die Berufsvorbereitungsschule in einem Deutschschweizer Kanton. Als sein Vater und die Frau sich trennten, verlor die ganze Familie auf einen Schlag ihr Bleiberecht. Für Abbas, dem es ich der Schweiz gut gefiel, war das ein Schock: «Ich konnte nicht glauben, dass wir wieder von hier wegmüssen. Ich habe die Hoffnung aber nicht verloren.»

«Ich bin meinem Arbeitgeber dankbar, dass er für mich ein Risiko auf sich nimmt.»

Abbas, Saudi Arabien, Alter unbekannt

Seine Freunde und Lehrpersonen haben Abbas immer unterstützt. Schliesslich fand er auch einen Arbeitgeber in einem technischen Beruf, der bereit war, ihn einzustellen, obwohl er keine Bewilligung hatte, und mit ihm gemeinsam das Gesuch für befristetes Bleiberecht auszufüllen. Wenn der Bescheid negativ ausfällt, tut dies Abbas auch für seinen Arbeitgeber leid, dem er sehr dankbar ist, dass er dieses Risiko auf sich nimmt: «Er verliert dann einen Lehrling und muss ein Jahr warten.»

Abbas Vater musste wieder nach Saudi Arabien ausreisen, auch der Aufenthaltsstatus seiner Brüder ist ungewiss. Trotzdem sieht der junge Mann seine eigene Zukunft ganz klar in der Schweiz. Weshalb die Situation für ihn so schwierig ist, kann er nicht verstehen. Er habe sich in der Schule immer bemüht und noch nie etwas verbrochen, betont er. «Ich hoffe, dass sich die Situation bald klärt, und ich einen positiven Entscheid bekomme.»

«Ich bin schon in der Schweiz, seit ich denken kann.»
 

Iman, Algerien, 25 Jahre alt

Iman ist der richtige Name der jungen Algerierin, die in schnellem, akzentfreiem Französisch aus ihrem Leben berichtet. Sie hat nichts mehr zu befürchten, denn vor drei Jahren erhielt sie die B-Bewilligung. Als sie vor sieben Jahren die Schule abschloss, gab es die Möglichkeit, befristetes Bleiberecht für die Ausbildungsdauer zu beantragen, noch nicht. Sie sagt: «Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Schritt und ich hoffe, dass irgendwann mehr Jugendliche von dieser Regelung Gebrauch machen können!»

Iman ist 25 Jahre alt und hat soeben eine Lehre als Bank- und Versicherungsangestellte in Lausanne abgeschlossen. Bis vor drei Jahren war sie noch eine «Sans Papiers», hatte also keine Papiere, welche ihren Aufenthalt in der Schweiz bewilligten. «Und dabei bin ich schon hier, seit ich denken kann!», sagt Iman, die als Kleinkind mit ihren Eltern in die Schweiz kam.

Iman wusste nicht, dass sie eine «Sans-Papiers» war

Der Asylantrag der Eltern wurde damals abgelehnt. Wie so viele blieben sie trotzdem, tauchten ab. Ihre Eltern arbeiteten seither in der Kinderpflege, Iman besuchte die reguläre Schule und ging sogar auf das Gymnasium. Ihre Kindheit hat sie nicht als besonders bemerkenswert in Erinnerung, sie habe sich eigentlich immer völlig normal gefühlt: «Lange habe ich gar nicht begriffen, dass ich ein Leben unter völlig anderen Voraussetzungen führte als die meisten meiner Kollegen!»

In ihrer Klasse habe niemand gewusst, dass sie keine gültigen Papiere hatte. Nicht einmal die Klassenlehrer oder der Rektor ahnten etwas – und schon gar nicht sie selbst. Iman erfuhr erst von ihrem Status, als in der neunten Klasse die erste Studienreise ins Ausland anstand. Als die Vierzehnjährige ihren Eltern euphorisch den Anmeldebogen mit nach Hause brachte, erklärten sie ihr, weshalb sie nicht fahren könne. Sie war völlig schockiert: «Es ist extrem schwierig, in einem Land aufzuwachsen, das man als das seine erachtet, und dann irgendwann zu merken, dass man doch nicht ganz gleich ist wie die anderen.»

Nach der Schule arbeitete Iman schwarz

Trotz dieser Erkenntnis führte Iman ihr Leben weiter wie gehabt. Dass sie keine Papiere hatte, erfuhr noch immer niemand aus ihrem Umfeld. Und doch hatte sich für sie etwas verändert, sie wurde etwas ängstlicher und auch vorsichtiger. Und sie begann, das Ende der Schulzeit immer mehr zu fürchten. Denn ihr war klar, dass sie danach nur wenige Aussichten haben würde. Als sie die Matur schliesslich erfolgreich absolviert hatte, war sie nicht fröhlich, aufgeregt und unternehmungsfreudig wie ihre Kollegen, sondern schweren Herzens und voller Angst. «Damals hatte ich das Gefühl, mein Leben sei jetzt vorbei.»




«Das war irgendwie schön, aber auch merkwürdig.» Iman über den Moment als sie eine Bewilligung erhielt. (Bild: Mara Wirthlin)

Ihr Weg trennte sich plötzlich jäh von demjenigen ihrer Freunde und Bekannten, die alle eine Ausbildung begannen oder arbeiteten. Auch Iman suchte Arbeit, allerdings wagte sie nur, sich in der Gastronomie oder in Nachtclubs zu bewerben, wo mündliche Arbeitsverträge und ein Minimum an Formalitäten normal sind. «Meine engen Freunde, die mich als fleissige Schülerin in Erinnerung hatten, wollten mir interessante Jobs und Praktika vermitteln und wunderten sich darüber, dass ich nur in Bars und Restaurants arbeiten wollte.»

Von «Null» auf «B»

Als ihr Verhalten in ihrem Umfeld zu auffällig wurde, weihte sie ihre engsten Vertrauten ein. «Manche sind ziemlich erschrocken», erinnert sie sich. Doch verändert haben sich ihre Beziehungen dadurch nicht. In den ersten vier Jahren nach der Matur lebte Iman wie in einer Seifenblase. «Ich hatte ständig Angst, dass ich zurück nach Algerien geschickt würde. Das hätte meine ganze schulische Laufbahn wertlos gemacht, und ich spreche nicht einmal die Sprache meines Herkunftslands.»

Hilfe fand sie schliesslich bei der «Fraternité du CSP Lausanne», einer sozialen Beratungsstelle für Migranten. Der Sozialarbeiterin Myriam Schwab gelang es, aufgrund von Artikel 8 der Menschenrechtskonvention die Legalisierung von Iman zu erwirken. Der Artikel beinhaltet das «Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens». Als Iman die B-Bewilligung schliesslich in den Händen hielt, konnte sie es kaum fassen. «Das war irgendwie schön, aber auch merkwürdig. Du gehst sozusagen von Null auf B.»

Ihre Eltern, bei denen sie immer noch wohnt, haben nach wie vor keine Bewilligung. «Es belastet mich täglich zu wissen, dass meine Eltern nach all den Jahren immer noch ausgeschafft werden könnten.» Iman ist sich bewusst, dass es auf dem Arbeitsmarkt mit einer B-Bewilligung nicht einfach wird. Doch sie versucht, so weiterzumachen wie bisher, ihren Alltag voranzutreiben wie alle anderen jungen Leute dies auch tun. «Dieser Weg hat mich bisher immerhin bis hierher gebracht.»

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