Alain Iseli ist Metallbauer, politisch engagiert – und verbringt seine Freizeit gern in der Steinzeit.
Vermutlich kostete genau ein solches Gerät die Gletschermumie Ötzi das Leben: Der 20-jährige, frischgebackene Metallbauer Alain Iseli erscheint an unseren Interviewtermin mit einem Pfeilbogen im sogenannten Pyramidendesign. Gearbeitet aus einem Eschenstamm. «Das war in der Jungsteinzeit ein sehr verbreitetes Design», erklärt Iseli. Entsprechend hoch die Wahrscheinlichkeit, dass die Pfeilspitze, die man im Oberkörper des Gletschermannes fand, mit eben einem solchen Bogen abgeschossen wurde.
Unter Iselis Outdoorjacke leuchtet ein rotes Unia-T-Shirt durch. Auf dem Kopf trägt er eine abgewetzte Feldmütze. Die Beine stecken in olivgrünen Cargopants und die Füsse in Stahlkappenstiefeln. Seine Überzeugungen sind konsequent links. Und man sollte meinen, er verbringe seine Ferien an Orten, «wo was los ist». Berlin, London, Amsterdam …
Beschauliche Abgeschiedenheit
Tatsächlich kommt er zum Zeitpunkt unseres Gesprächs gerade von einem Open-Air-Festival und plant bereits das nächste. Aber einen grossen Teil seiner freien Zeit verbringt er lieber in der beschaulichen Abgeschiedenheit des elterlichen Rusticos im Tessin. Dort brütet er nicht über den Strategien zur Errichtung einer gerechteren Welt. Eine seiner Leidenschaften ist ganz und gar rückwärtsgewandt und kaum fortschrittlich. Er baut nach Vorbildern aus der Steinzeit sogenannte Primitivbögen aus Esche.
Dabei geht er vor, wie man es seinerzeit eben tat. Er sucht einen passenden gerade gewachsenen und astfreien Baumstamm. Fällt den Baum und schafft die Beute von Hand ins Rustico. Na gut. Immerhin keine Hütte aus Strohgeflecht und Lehm. In der Werkstatt in der ehemaligen Stallung geht die Arbeit dann erst richtig los.
«Schon als Kind hab ich, wie die meisten Jungs, aus Haselstecken Bögen gebaut. Aber von der Herstellung eines echten, leistungsfähigen Jagd- und Kriegsbogens hatte ich keine Ahnung.» Schon immer faszinierte den Heranwachsenden das Mittelalter und die Steinzeit und wie sich die Leute damals durchgeschlagen haben. Aber für die Herstellung eines mittelalterlichen Bogens fand er nie eine detaillierte Bauanleitung. Bei einem Besuch im Zuger Steinzeitmuseum vor vier Jahren stiess er im Buch «Steinzeit leben» auf die Bauanleitung für einen steinzeitlichen Primitivbogen aus Esche.
Primitiv ist eigentlich das falsche Wort. Rekonstruierte Bögen aus der Steinzeit haben zum Teil ein sehr ausgeklügeltes Design und eine höhere Schussleistung als viele Bögen aus dem Mittelalter. Das pyramidale Flachbogendesign ist nicht nur sehr energieeffizient. Es erlaubt auch absolut zielgenaue Schüsse auf grosse Distanzen. Beim berühmten Holmegaard-Bogen – einem der wenigen erhaltenen Exemplare prähistorischer Bögen – stellten Physiker mit einiger Überraschung fest, dass die Wurfleistung des Bogens ohne Verwendung von modernen Verbundstoffen oder anderen Kompositbauweisen nicht zu optimieren ist.
Diese tödliche Effizienz kostete nicht nur Ötzi, sondern auch etlichen Stücken Grosswild das Leben. Dank des Primitivbogens landeten nicht nur Rentiere, Hirsche und Elche, sondern auch Höhlenbären und gewaltige Auerochsen auf den Bratspiessen unserer Vorfahren. Die Lebenserwartung der europäischen Steinzeitmenschen stieg durch die Erfindung der Distanzwaffen von 20 auf 30 Jahre.
Holz als Ausgleich
Doch das blutige Waidwerk oder gar der hinterhältige Meuchelmord sind Iselis Sache nicht. «Mich hat der Bogen fasziniert, weil er vor Jahrtausenden ein Gebrauchsgegenstand war. Ausserdem habe ich immer schon viel mit Holz gebastelt. Jetzt, wo ich als Metallbauer arbeite, ist das Holz für mich wie ein Ausgleich. Metall ist starr und statisch. Holz ist organisch, und jedes Stück ist wieder anders.»
Das hat auch seine Tücken. Der erste Versuch, einen Bogen zu bauen, scheiterte kläglich. Zwar sägte der 16-jährige Alain die erste selbst gefällte Esche auf die richtige Länge und viertelte den Stamm korrekt mit Spaltkeilen. Mit Stechbeitel, Hobel, Raspel und Sackmesser arbeitete er auch die korrekte Form heraus. Doch beim Bespannen mit einer Bauschnur brach der Bogen.
Heute ist er schlauer. Um einen Bogen aus einem Stamm herauszuarbeiten, braucht er noch etwa acht Stunden. Und die Bögen sind schnell und treffsicher. Aber noch lang nicht perfekt. «Wenn ich das richtig im Griff habe, will ich asiatische Kompositbögen bauen.»
Da hat er sich einiges vorgenommen. Die Reiterbögen der Asiaten, insbesondere der in der ganzen damals bekannten Welt gefürchtete Mongolenbogen, sind komplizierte Konstruktionen. Die Werkstoffe Holz, Horn, Sehne und verschiedene Fasern wurden sorgfältigst bearbeitet und mit Fischblasenleim verbunden. Die Herstellung solcher Bögen dauerte manchmal Jahre. Allerdings war ihre Wirkung vergleichbar mit modernen Sport- und Jagdbögen aus Holz, Glas und Carbonlaminaten. Mit dem Unterschied, dass die modernen Bögen mit dem richtigen Werkzeug und Material an einem Wochenende gebaut werden.
Kompromiss beim Verleimen
Da sich das Bogenschiessen eines regelrechten Booms erfreut, werden ständig Kurse in modernem Bogenbau angeboten. Doch solche Konstruktionen interessieren Iseli nicht: «Es müssen schon die richtigen, historischen Werkstoffe sein.» Lediglich beim Verleimen will er sich einen Kompromiss erlauben. «Statt Baumharzen und Fischblasenleim werde ich wohl wie die modernen Bogner Epoxydharz als Klebstoff verwenden.» Nicht nur um Zeit zu sparen eine kluge Wahl. Historiker vermuten, dass der Vormarsch der Hunnen unter Attilla nur deshalb von den Römern und Westgoten in Mitteleuropa gestoppt werden konnte, weil sich die hunnischen Kompositbögen im hiesigen Dauerregen auflösten. «Das wäre ja schade um die Arbeit.»
Wie man sich selbst einen Bogen baut, sehen wir in der «Sendung mit der Maus»:
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12