Warum es neue Energiequellen braucht

Obwohl es Öl in Hülle und Fülle gibt und geben wird, braucht es neue Energiequellen.

Raffinerie und Pipelines in Kuwait – längst ist die Welt nicht mehr von arabischen Ölfeldern allein abhängig. (Bild: Foto: Stuart Franklin/Magnum)

Obwohl es Öl in Hülle und Fülle gibt und geben wird, braucht es neue Energiequellen.

Daniel Yergin war Ökonomieprofessor an der Harvard University. Heute leitet er ein privates Energie-Beratungsbüro. Er gehört weltweit zu den führenden Energieexperten. Sein monumentales Buch «The Prize» schildert die Entwicklung der Erdölindustrie der letzten 150 Jahre. Es wurde in den 1990er-Jahren veröffentlicht und mit Auszeichnungen überschüttet. Jetzt hat Yergin eine Art Fortsetzung geschrieben, «The Quest». Es handelt sich dabei um eine Auslegeordnung der Energiefragen, die uns in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen werden.

Gefahr für Weltwirtschaft

Erdöl ist nach wie vor ein ganz spezieller Saft. Das Schicksal der Weltwirtschaft hängt nach wie vor am Öltropf. Aktuell droht Iran mit der Blockierung der Strasse von Hormus. Es ist mehr als eine leere Drohung. Durch diese Meerenge wird täglich rund ein Fünftel des gesamten Ölbedarfs geschifft. Eine erfolgreiche Blockade würde den Ölpreis über Nacht um etwa 50 Dollar pro Fass verteuern, denn der Erdölpreis reagiert auf die geringste Veränderung bei Angebot oder Nachfrage sehr heftig. Eine Erhöhung des Ölpreises um fast die Hälfte könnte die bereits angeschlagene Weltwirtschaft nicht verkraften.

Das Beispiel der Drohung einer Blockade der Strasse von Hormus ist typisch für die Lage auf dem Erdölmarkt. Es sind primär politische und Sicherheitsprobleme, die die Versorgung gefährden. Die Angst, dass es bald kein Öl mehr geben wird, ist hingegen unbegründet. «Seit den Anfängen der Industrie im 19.  Jahrhundert sind bisher rund eine Billion Fass Erdöl gefördert worden», stellt Yergin fest. «Derzeit wird geschätzt, dass die Reserven noch mindestens weitere 5 Billionen Fass Öl betragen, davon sind 1,4 Billionen genügend erschlossen, um als gesicherte Reserven zu gelten. Der Verbrauch des Öls dürfte gemäss den Prognosen bis 2030 etwa um 20 Prozent ansteigen, von täglich rund 93 Millionen Fass Öl auf 110 Millionen.»

Eingebildete Bedrohung

Die Gefahr eines Verteilkampfes um Öl oder gar eines Ölkrieges ist eher gering. Ost und West haben ein gemeinsames Interesse, die Versorgungswege zu sichern. Auch dafür ist die Strasse von Hormus ein Beispiel.

Auch der sogenannte Peak Oil ist eine eingebildete Bedrohung. Darunter versteht man den Zeitpunkt, an dem mehr Erdöl verbraucht als neu gefunden wird. Von einem Peak Oil sind wir jedoch noch sehr weit entfernt. Er existiert nämlich in dieser Form gar nicht. Die Vorstellung, wonach die bekannten Ölreserven zunächst steigen, bis es zu einem Wendepunkt kommt, ist falsch. Der grösste Teil des Öls wird gefunden, wenn ein Ölfeld bewirtschaftet wird. Erst dann realisiert man allmählich, wie viel überhaupt vorhanden ist.

Neue Fördertechniken

Neue Fördertechniken erlauben es, auch schwierige Erdölquellen zu erschliessen. In Kasachstan beispielsweise kann heute sehr schwefelhaltiges Öl gefördert werden. Mit den veralteten Fördermethoden der Sowjetunion wäre das viel zu gefährlich gewesen. Auch in der Tiefsee wird immer mehr Öl gefunden.

Die umstrittenste der neuen Fördertechniken ist das sogenannte Fracking. Dabei werden horizontale Tunnels in Schiefergestein gebohrt und danach unter hohen Druck ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien hineingepumpt. Auf diese Weise gelangt man an bisher nicht erreichbares Öl. Fracking ist in den USA entwickelt worden. Es hat dazu geführt, dass die Vereinigten Staaten weit weniger von ausländischem Öl abhängig sind als noch vor ein paar Jahren. Heute beträgt der amerikanische Eigenversorgungsgrad beim Öl 60 Prozent, vor ein paar Jahren lag er noch bei 40 Prozent.

Dank Fracking sind die USA jedoch vor allem wieder ein bedeutender Produzent von Erdgas geworden. Heute ist der Preis auf einem Rekordtief und den Amerikanern droht eine eigentliche Gasschwemme. Diese Entwicklung hat die meisten Experten überrascht. Sie hat grosse Konsequenzen für den Energiemarkt, denn gleichzeitig ist auch das Flüssiggas, das sogenannte LNG, zu einem wichtigen Faktor geworden.

Erdgas war lange zu wertvoll, um für die Stromproduktion verwendet zu werden. Das neu entdeckte Schiefergas und LNG haben es in eine kostengünstige Option verwandelt. Das hat die Chancen für eine Renaissance der Atomkraft in den USA stark geschmälert. Auch Kohlekraftwerke werden vermehrt durch Erdgas ersetzt. Das bringt uns in eine ökologische Zwickmühle. Wenn Kohlenkraftwerke auf billiges Erdgas umstellen, ist das ein gewaltiger Fortschritt. Umgekehrt ist das Fracking selbst höchst umstritten. Es braucht sehr viel Wasser. In Texas beispielsweise schnappen Ölkonzerne bereits den Farmern die Rechte für die Wassernutzung für viel Geld weg.

Klimaerwärmung im Zentrum

Das Problem bei Öl und Gas ist jedoch, dass sie verbrannt werden. Auch für Yergin gibt es keinen Zweifel mehr: Die grösste Herausforderung für die Menschen des 21.  Jahrhunderts ist die Klimaerwärmung. Sie wird immer mehr zu einem gigantischen Experiment mit dem Planeten, wobei der Ausgang völlig ungewiss ist. Das haben inzwischen fast alle begriffen.

Russlands Premierminister Vladimir Putin pflegte lange zu scherzen, die Klimaerwärmung sei eine gute Sache – die Russen müssten weniger Pelzmäntel kaufen. Nach den verheerenden Waldbränden infolge einer Rekorddürre im Sommer 2010 gibt auch er zu: «Das Klima ändert sich. Das haben wir dieses Jahr begriffen.»

Unbestritten ist auch, dass die Klimaerwärmung eine Folge des CO2-Ausstosses ist und dass deswegen der Ausstoss dieses Gases drastisch vermindert werden muss. Das ist leichter gesagt als getan: «Es ist verwirrend in einer Welt, in der Kohlenwasserstoffe – Öl, Erdgas und Kohle – über 80 Prozent des gesamten Energiebedarfs zur Verfügung stellen und in der die gesamte Nachfrage nach Energie in den nächsten zwei Jahrzehnten um rund 40 Prozent zunehmen wird», stellt Yergin fest. Die Energieform der Zukunft wird der elektrische Strom sein, und die Art und Weise, wie dieser Strom hergestellt wird, dürfte die Schicksalsfrage der Menschheit werden.

Wettbewerb ungesund für Strom

Die Stromwirtschaft ist ein «natürliches Monopol». «Wettbewerb ist ein ungesunder wirtschaftlicher Regulator im Strombusiness», erkannte bereits Samuel Insull, einst Sekretär des legendären Erfinders Thomas Edison und später Chef seines Unternehmens General Eletrics. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Zwar hat sich im Silicon Valley nach dem Platzen der Dotcom-Blase ein Mini-Cleantech entwickelt. Firmen wie Google wagen sich auf das Territorium der Energieerzeuger und wecken so die Hoffnung, dass demnächst auch die Energiebranche durch dynamische Jungingenieure in Garagen und Finanzgenies in Turnschuhen in kürzester Zeit Wunder schaffen und billige und erneuerbare Energie aus dem Hut zaubern könnte.

Die Hoffnungen werden sich kaum erfüllen. «Sicher, ein Google der Energiebranche könnte entstehen. Vielleicht geschieht das gerade in diesem Moment, und das wird möglicherweise in den nächsten fünf Jahren noch nicht erkannt. Schliesslich, wie viele Menschen haben 1998 von Google gehört? Aber die Energieindustrie ist anders, sehr anders», warnt Yergin.

In dieser Branche geschehen Wunder nicht über Nacht. So hat es 15 Jahre Forschung gebraucht, um einen wirksamen Filter zu entwickeln, um das Schwefeldioxyd bei der Verbrennung von Kohle aufzufangen. Deshalb sagt auch der Venture Capitalist Ray Lane: «Es gibt nur sehr wenige Gemeinsamkeiten zwischen der digitalen und der Energie-Welt. Es gibt ganz andere Gesetze wie Thermodynamik, physikalische Beziehungen, chemische Reaktionen und biologische Systeme. Es ist ein von der Politik beeinflusstes, kapitalintensives Geschäft, das die Investoren verstehen müssen.»

Neue Autoflotten

Das Gleiche gilt für die Autos. Elektromotoren werden eine immer grössere Rolle spielen, aber die Entwicklung wird nicht über Nacht erfolgen. Es dauert rund zwölf Jahre, bis sich die Autoflotte eines Landes erneuert. Eine neue Infrastruktur für Elektroautos zu erstellen kostet ebenfalls viel Zeit und viel Geld. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass Elektroautos sich im grossen Stil nicht im Westen, sondern im Osten durchsetzen werden. In China ist ein «New Energy Vehicle» bereits zu einem von sieben strategischen Wirtschaftszielen erhoben worden.

Wie sieht das Auto der Zukunft aus, und mit welchem Treibstoff fährt es? «In den letzten paar Jahren hat sich eine überzeugende Vision herausgebildet», stellt Yergin fest. «Wind- und Sonnenenergie werden die neuen Stromquellen. Dieser Strom muss über grosse Distanzen transportiert werden und braucht ein weit ausgeweitetes und modernisiertes Verteilsystem. Wenn der Strom in die Städte kommt, wird er von einem ‹intelligenten Netz› (smart grid) gemanagt, das ihn in die Haushalte verteilt, in die Aufladestationen und die Batterien der Autos. Einige glauben gar, dass die Autos selbst zu Batterien werden, wenn sie stillstehen.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 03.02.12

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