Warum ich der Anteilnahme nicht über den Weg traue

Bei allem Verständnis für öffentlich bekundetes Mitgefühl: Dahinter stecken oft nur Egoismus, Kulturkampf und Sensationslust.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Bei allem Verständnis für öffentlich bekundetes Mitgefühl: Dahinter stecken oft nur Egoismus, Kulturkampf und Sensationslust.

Ich habe sie immer mit Argwohn betrachtet – die Anteilnahme. Ein Kind wurde entführt, vielleicht sogar getötet, und Tausende Menschen verfolgen es mit, suchen selbst, bilden Gruppen, teilen Beiträge, sammeln Zeitungsartikel und leiden bei jedem neuen Detail zum Fall mit. Oder sollte ich sagen: fiebern mit?

Ein Schüler an der Kanti stirbt und ganze Klassen sind betroffen, hinterlassen Botschaften für den Dahingeschiedenen, weinen an seiner Beerdigung, auch wenn sie den Schüler vor seinem Tod ignoriert haben.

Ein Feriendampfer sinkt, viele Menschen ertrinken. Noch Monate später ist das Wrack eine Pilgerstätte für Tausende Schaulustige.

Ein Anschlag wird verübt in Paris und Millionen von Facebook-Nutzern färben ihr Profilbild in den Farben der Tricolore. Die Titelseiten aller Zeitungen beklagen die Opfer in Grossbuchstaben, virale Hashtags werden etabliert. So auch nach dem Attentat in Berlin – #prayforBerlin.

George Michael stirbt – seine Alben schiessen sofort an die Spitze der Charts. Hatten die wahren George-Michael-Fans nicht schon alle seine Alben? Ist der Beweggrund für den plötzlichen Kauf seiner Werke etwa Michaels Tod?

Ein mulmiges Bauchgefühl

Es fiel mir etwas schwer, diese Einleitung zu schreiben. Denn auch ich leide mit und teile es mit, wenn Schreckliches auf der Welt passiert. Ich wurde dabei auch das Gefühl nicht los, gefühllos zu wirken.

Natürlich kann man auf einen Künstler auch durch den Rummel um seinen Tod aufmerksam werden. Natürlich erschüttert es einen, wenn in der Stadt, in der man kürzlich ein romantisches Weekend verbracht hat, Menschen regelrecht abgeschlachtet werden. Selbstverständlich bewegen einen die Bilder eines Luxusdampfers in Schieflage. Wenn einer an der eigenen Schule stirbt, ist das ein Riesenthema für alle. Umso mehr, wenn er sich das Leben genommen hat.

Und natürlich hoffen alle, dass das arme Mädchen lebend gefunden wird und auch die Eltern von ihren Qualen erlöst werden. So lange man das Mädchen nicht findet, ist es sogar verständlich, wenn man selbst raus will, um es zu suchen. Deshalb sage ich auch, dass ich die Anteilnahme mit Argwohn betrachte, nicht dass ich sie nicht nachvollziehen kann. Aber bei allem Verständnis schwingen schon immer zirka zehn Prozent mulmiges Bauchgefühl mit. Diese Schwingungen wurden in den letzten Jahren eher stärker und liegen inzwischen bei gut 30 Prozent. Lasst mich meinen Argwohn in drei Aspekten illustrieren.

1. Die angebliche Empathie

In einem Dokumentarfilm zu einem verschwundenen und später tot aufgefundenen Mädchen kam der Mann zu Wort, der ihre Leiche fand. Er war ein freiwilliger Helfer, kannte weder die Familie noch das Mädchen näher. Ich erinnere mich leider nicht mehr, um welchen Fall es sich handelte. Die Fälle von entführten Kindern sind tragischerweise oft nur so lange aktuell, bis ein anderer krasser Fall die Medien dominiert.

Aber ich erinnere mich, dass dieser Finder in dieser Dokumentation etwas in die Richtung gesagt hat: «An diesem Tag spürte ich, dass ich noch mal raus musste und ich das Mädchen finden werde.»

Wie viel Selbstmitleid steckt im Mitleid mit Opfern von Gewaltverbrechen und Katastrophen?

Genau in solchen Aussagen manifestiert sich mein mulmiges Gefühl. Der Mann meinte es bestimmt gut und hat auch zur Lösung des Falls beigetragen, aber seine Annahme, dass er sozusagen vom Schicksal dazu bestimmt war, dieses Mädchen zu finden, hat etwas Eigenartiges. Der Mann hatte bis dahin keine wirkliche Bindung zu diesem Mädchen und fühlt sich nun dazu berufen, ihr Finder zu sein? Man kann das mitfühlend nennen, aber auch egozentrisch.

Wie viel Selbstmitleid, vielleicht sogar Selbstverwirklichung steckt in diesem Mitleid mit Opfern von Gewaltverbrechen und Katastrophen? Was ist grösser: das Mitleid mit den Opfern oder die Wut auf den Täter? Wie weit sieht man im Opfer sich selbst, im Täter oder in der Katastrophe die empfundene Ungerechtigkeit im eigenen Leben? Entlädt sich in der Wut auf den Täter auch die Frustration über Missstände im eigenen Leben?

2. Die Doppelmoral

Wenn Menschen sterben müssen oder gar getötet werden, ist das immer schlimm. Vor allem für sie selbst und danach für ihre Angehörigen und Freunde. Vergleicht man aber die statistische Zahl der Opfer von Terroranschlägen in den letzten Jahren mit denen der Menschen, die im Krieg in Syrien, auf Booten im Mittelmeer oder an Hunger in Entwicklungsländern gestorben sind, fallen Erstere kaum ins Gewicht.

Wenn ein Luxusdampfer mit weissen Touristen sinkt und Menschen sterben, hält die Welt den Atem an. Wenn im Mittelmeer 500 Afrikaner auf der Flucht ertrinken, schafft es diese Meldung vielleicht nicht einmal mehr in unsere Tageszeitung.

Was sollen diese Hashtags #prayforXY? Ist es nicht genau das, was die Attentäter vor ihrer Tat machen: zu ihrem Gott beten?

Wenn ein Dutzend Menschen in Berlin aus dem Leben gerissen werden, dominiert die Meldung tagelang sämtliche Titelseiten und Sozialen Medien. Wenn Tausende Zivilisten unter den Bomben der Amerikaner, der Deutschen und vieler anderer europäischer Länder sterben, interessiert es niemanden.

Und dann wäre da noch dieses #prayforXY. Ist es nicht genau das, was die Attentäter vor ihrer Tat machen? Zu ihrem Gott beten? Und wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass in mehr als einem dieser Hashtags ein «Unser christliches Abendland ist besser als eure barbarische arabische Welt» mitschwingt?

3. Die Sensationslust

Die Menschen scheinen einen Fetisch für das Elend zu haben. Was Medien nicht mit nackter Haut und Tratsch an Klicks und Blicken generieren können, holen sie sich mit Tod, Krieg, Katastrophen und menschlichen Abgründen. Man schaut gerne in diesen Abgrund.

Auch in der Anteilnahme mit dem verschwundenen Mädchen und dem suizidalen Schüler aus der Parallelklasse schwingt die Neugier für das Unsägliche mit. Action-, Kriegs- und Psychothriller in real und doch aus sicherer Distanz. Auch das ein Aspekt, welcher der Anteilnahme einen faden Beigeschmack verleiht.

Und das ist meine Befürchtung: dass die Stimmungsmache in Skandal-Medien und Politik sowie der permanente Beschuss des Individuums mit Schreckensmeldungen die Anteilnahme ihrer Empathie beraubt und sie durch Egoismus, Kulturkampf und Sensationslust ersetzt.

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