Senioren erhalten Hilfe im Haus, Studierende billigen Wohnraum – das ist die Idee von «Wohnen für Hilfe», dass die studentische Wohnvermittlung seit einem Jahr anbietet. Das Problem bisher: Es fehlen Senioren. Aber warum? Unsere Autorin hat das Wohnprojekt unter die Lupe genommen, das den Dialog zwischen den Generationen fördert.
Ganz schön weit, der Weg nach Bettingen, denke ich, als ich im Bus sitze. Dort, im ländlichen Idyll von Basel, lebt das Paar, das seit September einen polnischen Musikstudenten beherbergt. Die einzige Wohnpartnerschaft, die im Rahmen des Projekts «Wohnen für Hilfe» bisher zustande gekommen ist.
Eigentlich klingt die Idee sehr vernünftig: Ältere Menschen stellen ihre überzähligen Zimmer vergünstigt oder gar gratis jungen Personen in Ausbildung zur Verfügung. Im Gegenzug packen diese in Haus und Garten mit an.
Pro Quadratmeter Wohnfläche ist monatlich eine Stunde Arbeit zu leisten, so lautet die Empfehlung des Vereins für Studentisches Wohnen (WoVe). WoVe will mit dem Anfang 2016 lancierten Projekt zwei Fliegen auf einmal schlagen: freien Wohnraum besser nutzen und dem Bedarf nach günstigen Zimmern unter Studierenden entgegenkommen.
Während der Bus die letzte Kurve nimmt, überlege ich, dass das Arrangement in Bettingen wohl eher eine Übergangslösung für den Musikstudenten ist. Vermutlich hat er in der kurzen Zeit zwischen seiner Ankunft aus Polen und Semesterbeginn nichts anderes bekommen.
Ich stelle mir vor, wie er in der Zwischenzeit an der Musikhochschule neue Kollegen gefunden hat, bei denen er schon bald einziehen wird. Jeder junge Erwachsene möchte doch lieber unter seinesgleichen in einer WG leben als mit Leuten, die dreimal so alt sind.
Müde Rentner, die sich bedienen lassen? Falsche Vorstellung
Bettingen Dorf, der Bus hält. Post, kleiner Laden und ein paar in der Erde wühlende Hühner komplettieren das Bild. Nach zwei Minuten Fussmarsch empfangen mich Barbara Gronbach und Urs Haldimann herzlich in ihrem Haus und bitten gleich zu Tisch. Auch der 20-jährige Student Robert Winiarz nimmt Platz.
Haldimann serviert Apfelwähe mit Schlagrahm, dazu gibt es Kaffee. Das Paar entspricht nicht dem Bild, das ich mir von den vermeintlichen Senioren gemacht habe. Er ist pensionierter Journalist, sie berufstätig und arbeitet für die Fachstelle Alter.
Hilfe benötigten die beiden keine. Doch weil ihnen das Projekt so gut gefallen hat und sich im Haus ein selten benutztes Gästezimmer mit eigenem Bad befindet, haben sie sich dennoch gemeldet. Seit vergangenem September wohnt Winiarz bei ihnen. Gemeinsam sind sie übereingekommen, dass er keine Hausarbeiten übernimmt, dafür Miete bezahlt. Bisher läuft es sehr gut.
«Er ist fröhlich und hat immer Musik im Kopf», sagt Urs Haldimann. «Und wenn wir verreisen, dann ist es ein beruhigendes Gefühl, jemanden im Haus zu wissen», fügt Barbara Gronbach hinzu. Zudem hat Winiarz den zwei Musikliebhabern auch schon Konzertkarten geschenkt oder sie zu einem seiner Vorspielen an der Musikhochschule eingeladen. «Dort haben wir seine Mitstudenten kennengelernt», sagt Haldimann, «das gab uns einen Einblick in eine ganz andere Welt.»
Sehen, wie die Jungen so leben – wie wichtig das ist, erklärt mir ein paar Tage später Pasqualina Perrig-Chiello. Sie ist Generationenforscherin und emeritierte Psychologieprofessorin der Universität Bern. «Etwas vom Schlimmsten im Alter ist, nicht mehr up to date zu sein», sagt sie. Denn dann fühlt man sich schnell fremd in der Gesellschaft. Dank der steigenden Lebenserwartung leben heute in der Schweiz vier Generationen. «Wenn jede nur in ihrem eigenen Saft schmort, dann funktioniert die Gesellschaft irgendwann nicht mehr», sagt Perrig-Chiello.
Als «unkompliziert» erlebt der Student die Kommunikation mit seinen beiden Mitbewohnern. Überhaupt scheint er mit seiner Wohnsituation sehr zufrieden zu sein. Besonders schätze er, dass die zwei ausreichend Geduld hätten, um mit ihm Deutsch zu sprechen, sagt er. Auch wenn er erst vor einem halben Jahr angefangen hat, die Sprache zu lernen.
Und selbst der weite Weg vom Stadtzentrum nach Bettingen macht Winiarz nichts aus. «Ich fahre meistens mit dem Velo», erzählt er, «das ist ein gutes Training für das Trompetenspielen.» Aber fehlt ihm zu Hause nicht der Kontakt mit Leuten in seinem Alter? «Nein», erwidert er. Die sehe er ja tagsüber an der Hochschule.
Chaim Howald ist verantwortlich für das Projekt «Wohnen für Hilfe» bei der WoVe. Die dürftige Bilanz nach einem Jahr beunruhigt ihn nicht. Er weiss, dass solche Projekte immer eine gewisse Anlaufzeit brauchen. Allerdings sei die Vermittlung zwischen Senioren und Studierenden nicht leicht. Denn nicht selten wünschen sich ältere Leute, die sich melden, eine körperliche Betreuung. Eine Art Spitex light. «Solche Hilfeleistungen wollen und dürfen wir nicht anbieten», sagt Howald.
Die grösste Herausforderung sei auch nach mehreren Jahren, genügend ältere Menschen zu finden, die bereit sind, einen Studenten oder eine Studentin aufzunehmen. Diese Erfahrung macht die Pro Senectute Kanton Zürich. Nach einer zweijährigen Pilotphase bietet sie seit 2011 ebenfalls «Wohnen für Hilfe» an und übernimmt die Vermittlung.
Das Problem des Projekts? Die Nachfrage bei den Studierenden ist viel höher als das Angebot bei den Senioren.
Nach wie vor ist die Nachfrage bei den Studierenden viel höher. Den Bedenken und Ängsten der Senioren zu begegnen, erfordere viel Effort und persönliche Gespräche, sagen die Projektverantwortlichen. Doch ihre Arbeit zahle sich aus: Insgesamt sind so 94 Wohnpartnerschaften zustande gekommen, aktuell sind es deren 25.
Zu einem letzten Schluck Kaffee geniesse ich ein kurzes Hauskonzert. Robert Winiarz spielt uns eine Etüde vor. Wollen Barbara Gronbach und Urs Haldimann nach ihm erneut einen Studenten oder eine Studentin bei sich wohnen lassen? Wahrscheinlich schon. Denn bereits heute fehle ihnen etwas, wenn Winiarz in den Ferien sei, sagt Frau Gronbach: «Er bringt ganz einfach Leben ins Haus.»