Schweizer Fernsehen? Arrogant. Native Advertising? Prostitution. Vinzenz Wyss ist mit vielen Aspekten seines Fachgebiets nicht einverstanden. Der Medienwissenschaftler über die Fehler der Branche und seine Lehren daraus.
Auch ein Vinzenz Wyss steht nicht über allem, ganz sicher aber nicht über der Raumbelegung in der Winterthurer Hochschule ZHAW. Ein Gespräch mit dem streitlustigen Medienwissenschaftler über die Versäumnisse des Schweizer Fernsehens vor der wichtigen RTVG-Abstimmung, über die Krise der Medien und Auswege daraus. Die Tür zum schmucklosen Gesprächsraum geht auf, eine Gruppe Studenten will das Zimmer beanspruchen. «Zehn Minuten noch? Fünf vielleicht?» – Wyss blitzt ab.
Er hat aber auch lange gesprochen, weil er es gerne tut und weil man einer geschwätzigen Branche vielleicht nur so beikommt. Nach dem Tod Kurt Imhofs ist Wyss der dezidierteste Kritiker der Medienhäuser und des ausgezehrten Journalismus in Zeiten zerbröckelnder Geschäftsmodelle.
Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass Sie sich auf Facebook und Twitter über Journalisten ärgern. Was war der letzte Artikel, der Ihnen richtig Freude bereitet hat?
Mein Medienkonsum ist stark durch meine Arbeit geprägt. Ich lese vorwiegend Beiträge, die sich mit Medien befassen, und drohe in einer Filter-Blase stecken zu bleiben, die meinen medialen Horizont einschränkt. Das geht oft zu Lasten einer breiten Lektüre, etwa der politischen Berichterstattung. Der letzte Artikel, der mir gefallen hat, war das Interview mit Roger de Weck in der «Aargauer Zeitung».
Der 50-jährige Medienwissenschaftler leitet an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur die Professur für Journalistik. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit konzentriert sich Wyss auf die Themen journalistische Qualität, Journalismusforschung, Medienethik und Medienkritik. Er ist ausserdem Präsident der SRG-Bildungskommission.
Ist Ihnen die Freude an der Zeitungslektüre durch Ihren Beruf verloren gegangen?
Mir bereitet mein Beruf sehr viel Vergnügen, dazu gehört auch die Medien-Lektüre. Natürlich ärgere ich mich oft über das, was ich lesen muss. Allerdings lasse ich mich auch gerne ein wenig ärgern. Etwa über die Berichterstattung zur RTVG-Revision, eine politische Debatte, die völlig unzureichend sehr lange sehr einseitig geführt wurde.
Sie vertreten mit viel Verve den Systemwechsel der Gebührenerhebung bei der SRG. Weshalb diese Parteinahme?
Die neue Finanzierungsmethode ist kostengünstiger, sie führt zu weniger Bürokratie und ist fairer, weil sich viele bislang vor der Gebühr gedrückt haben. Davon sind nicht nur die SRG, sondern vor allem auch private Radio- und TV-Veranstalter betroffen.
Sollte man nicht über die Arbeit von Fernsehen und Radio, über den Leistungsauftrag diskutieren, bevor die neue Finanzierung definiert wird?
Das wäre eleganter gewesen, klar. Es wäre auch schöner gewesen, wir hätten über den Auftrag der Armee gesprochen, bevor wir über den Gripen diskutieren mussten. Wir werden aber über den Leistungsauftrag sprechen können, die eidgenössische Medienkommission hat das bereits angekündigt. Und hier liegt auch ein Vorteil der neuen Finanzierungsweise. Mit dem System, das kommen soll, kann jederzeit angepasst werden, ob die SRG mehr oder weniger Geld zur Verfügung gestellt erhält.
Im Moment nutzen viele die Gelegenheit, dem Schweizer Fernsehen vorzuhalten, was es alles falsch macht.
Das passiert gerade, aber es ist gefährlich, weil es kein rationales Vorgehen ist. Es ist problematisch, jetzt schon eine Grundsatzdiskussion an die Finanzierungsfrage zu koppeln.
Der Stimmbürger kann zum ersten Mal über die SRG befinden, da ist doch nachvollziehbar, dass jetzt der ganze Frust hochkommt.
Bei der Minarett-Initiative lief es ganz ähnlich ab. Wenn ein demokratischer Prozess nur noch daraus besteht, jemandem einen Denkzettel zu verpassen, dann nimmt das politische System Schaden. Man schadet damit übrigens vor allem den Privatsendern, die viel Geld für die Digitalisierung in die Hand nehmen müssen. Sie würden künftig mehr Geld erhalten, die SRG gleich viel wie bisher.
Ist die Debatte zum RTVG für Sie ein Beispiel, wie Journalisten mit unsorgfältiger Arbeit Vertrauen verspielen?
Nicht in dieser Absolutheit. Gerade die Debatte zum Service Public sollte gründlich geführt werden. Ich sehe die Gefahr darin, dass aus diesem ganzen Gewimmel in den sozialen Medien, in dem sich ja auch die Journalisten bewegen, Unwahrheiten Eingang in die Berichterstattung finden können. Das ist gefährlich, denn der Journalismus als Institution lebt von dem Vertrauen, das er in der Öffentlichkeit geniesst. Und ich beobachte, dass die Medien in der Debatte um die RTVG vor allem die Argumente der Gegner aufgreifen. Denn die sind pointierter und haben weniger den Charakter von Argumenten als von Narrativen. Die lautesten Stimmen werden gehört. Also kommt die grundsätzliche, sachliche Diskussion zu kurz. Unwahre oder falsche Argumente werden kaum überprüft.
Hat die verkürzt und einseitig geführte Debatte strukturelle Gründe?
Das Potenzial für eine vielfältige Debatte ist heute grösser denn je. Jeder kann sich äussern, jeder kann seine Meinung einer Öffentlichkeit präsentieren. Das hat allerdings Auswirkungen auf die Arbeitsweise der Journalisten, denn sie kämpfen letztlich um Aufmerksamkeit. Die erhalten sie leider viel zu oft mit der Bewirtschaftung von Empörung. Die Medien befinden sich heute in einem stark reaktiven Modus, gerade im zeitnahen Online-Journalismus besteht diese Gefahr. Diese Dynamik kann der Glaubwürdigkeit der Medien schaden. Die Medienhäuser müssen nun einen Umgang damit finden, indem sie etwa ihre Kommentarspalten moderieren oder gerade die schnelle Berichterstattung mit mehr Ressourcen ausstatten.
Auch Sie haben sich dieser Kurzatmigkeit der Online-Medien angepasst. Ihrem Ärger über journalistische Fehlleistungen machen Sie umgehend auf Twitter Luft. Wie nachhaltig ist Ihre Instant-Medienkritik?
Ich weiss nicht, wie relevant mein persönliches Verhalten in diesem Gespräch ist. Wir müssen einen Unterschied machen zwischen dem, was journalistische Medien leisten sollen und einer ad-hoc-artigen Diskussionsweise, wie sie in den sozialen Medien gepflegt wird. Die Aufgabe der Journalisten ist eine unaufgeregte, reflektierte, professionelle Berichterstattung, während auf Facebook und Twitter auch einmal halbgare Denkanstösse und zugespitzte Thesen platziert werden dürfen. Ich sehe die Gefahr nun darin, dass diese beiden unterschiedlichen Kommunikationsmodi sich vermischen. Dass also Journalisten den Tonfall aus den sozialen in die herkömmlichen Medien übertragen, wo er nicht hingehört. Etwa wenn sie Vorwürfe an eine bestimmte Person publizieren, ohne diese zuvor damit konfrontiert zu haben. In der Annahme, dass die kritisierte Person sich ja dann anschliessend wehren könne.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Anfang Mai hat die «Sonntagszeitung» herausgefunden, dass im Jahresbericht der SRG die Gehälter nicht ganz transparent dargelegt werden. Der anschliessende Artikel wurde veröffentlicht, ohne dass der SRG eine Möglichkeit zur Stellungnahme geboten wurde. Das wird immer häufiger so gemacht. Die Qualitätskriterien des Journalismus sind durch die Kommunikationsmodi in den sozialen Medien und in den Blogs verwässert worden.
Gerade die Medienkritik war einst ein Nischenthema, das hat sich mit den sozialen Medien radikal verändert. Heute ist jeder ein Medienkritiker.
Die Medien selbst sind immer noch zurückhaltend, wenn es um Medienkritik geht. Diese sogenannte Selbstbeobachtungsfalle erleben wir aktuell am Beispiel der RTVG-Revision. Wie soll das SRF dieses Thema glaubwürdig behandeln können? SRF steht immer im Verdacht, eigene Interessen zu verfolgen. Umso wichtiger ist es, dass in den Medienhäusern die Ressourcen bereitgestellt werden, um eine Medienkritik zu institutionalisieren. Etwa indem Medienressorts oder spezialisierte Journalisten sich des Themas annehmen.
In den sozialen Medien kann jeder wüten, wie es ihm beliebt. Wem bringt das etwas?
Die Alternative wäre ja, dass wir gar keine Medienkritik haben. Früher konnten verärgerte Leser Leserbriefe schreiben. Schon heute können wir feststellen, dass diese Twitter-Medienkritik den medienkritischen Diskurs bereichert. So steigt der Druck zur Reflexion, zur Rechtfertigung und letztlich gar zur Selbstbeobachtung bei den Medien. Insofern ist die Medienkritik auf diesen Kanälen dazu geeignet, eine professionelle Medienkritik zu befördern. Es handelt sich dabei ja immer noch um eine recht neue Entwicklung. Vielleicht etablieren sich irgendwann gewisse Regeln, die einen konstruktiven Umgang mit dieser Medienkritik ermöglichen. Das Potenzial ist jedenfalls da.
Durch das stetige kritische Hintergrundrauschen entsteht auch eine Kultur des Zweifels. Beim Thema Ukrainekrise wurden irgendwann Gerüchte in einem Blog gleichwertig behandelt wie eine dreimonatige Recherche der ARD. Wie kann man in einem solchen Klima noch journalistisch arbeiten?
Die gesamte öffentliche Kommunikation ist in einer Glaubwürdigkeitskrise. Es gilt: Glaube niemandem! Hier sehe ich als einzige Lösung die, dass die Medien damit anfangen, eine Art Metakommunikation zu leisten. So etwas wie ein redaktioneller Beipackzettel, der erklärt, wie ein Beitrag entstanden ist, wo steht, welche Qualitätskriterien gelten, welcher Leitidee man folgt. Wenn professionelle Medien in ihrer Kommunikation über die reine Berichterstattung hinausgehen, können sie sich von den anderen Informationsangeboten im Internet abheben. Diese Metakommunikation ist vernachlässigt worden, viele Journalisten haben sich einfach darauf verlassen, dass man ihnen schon glauben wird, dass die Qualität ihrer Arbeit offensichtlich sei. Ich habe mich kürzlich mit einem SRF-Kader genau darüber unterhalten. Er hat dann gesagt, dass eine Diskussion über Service Public nicht nötig sei, weil die Qualität seiner Arbeit täglich im Programm zu begutachten sei. Das stimmt jedoch nicht. Kaum ein Zuschauer wird einem Fernsehbeitrag quasi automatisch ansehen, wie professionell er erstellt wurde.
Die Verfehlungen der Medien sind zum Dauerthema geworden. Sie schicken als Leiter der Professur für Journalistik an der ZHAW jedes Jahr 50 Journalisten in diese verdorbene Branche. Kein schlechtes Gewissen?
Nein, definitiv nicht. Da sind wir auch ehrlich und erzählen am Anfang des Studiums, wie prekär die Lage in dieser Branche ist. Wir sagen offen: Das ist kein Traumberuf. Trotzdem braucht es den Journalismus – einen professionellen Journalismus. Und offenbar schrecken unsere Warnungen die Studenten nicht ab: 97 Prozent unserer Absolventen des Journalistik-Studiengangs finden einen Job in den Medien.
Ob sich die Erwartungen Ihrer Studenten dort erfüllen, wissen Sie nicht.
Doch, wir führen regelmässig Absolventenstudien durch; aber wir können das natürlich nicht mehr beeinflussen. Was mich manchmal traurig stimmt, sind solche Erfahrungen: Wir vermitteln hier medienethisches Wissen und dann kommen die Studenten in den Beruf und dort heisst es als Erstes: «Vergiss das alles wieder, das hier ist die Realität.»
Ist der Newsroom mächtiger als der Seminarraum?
Wenn der Chef die Anweisung gibt, die Mutter eines toten Kindes zu befragen, das vom Traktor überfahren wurde, hat der Journalist vielleicht schon ein mulmiges Gefühl. Er wird aber wahrscheinlich eher dem Chef gefallen wollen, als sich an unsere medienethischen Botschaften zu erinnern, dass man Leute unter Schock in Ruhe lassen soll. Aber alleine das mulmige Gefühl ist ein Erfolg. Es zeigt, dass etwas hängen geblieben ist.
«Wenn journalistische Aufträge direkt von der Marketingabteilung herausgegeben werden, dann ist die Befehlsgewalt des Chefs halt stärker als die Ausbildung.»
Glauben Sie daran, die Branche mit Ihren Studenten verändern, verbessern zu können?
Das haben wir nicht in der Hand mit unseren 50 Absolventen, die sich pro Jahr für den Journalismus entscheiden. Tatsächlich findet eine Deprofessionalisierung statt mit weniger Manpower und Ressourcen. Die Versuchungen steigen, Dinge aus ökonomischen Interessen zu tun, die man nicht tun sollte. Stichwort Native Advertising. Für mich ist das des Teufels, das ist Prostitution, wenn Redaktoren eingespannt werden für bezahlte Beiträge. Berichte werden gekoppelt an Inserate – so sieht der Trend aus. Das können wir leider nicht beeinflussen.
Ihre Journalisten könnten sich diesen Aufträgen verweigern.
Könnten sie, aber das ist sehr schwierig, gerade wenn man bei einer Lokalzeitung oder einem Privatradio arbeitet. Ich kenne einige solcher Fälle, wo journalistische Aufträge direkt von der Marketingabteilung herausgegeben wurden. Dann ist die Befehlsgewalt des Chefs halt stärker als die Ausbildung.
Braucht es, um die Finanzierungskrise zu bewältigen, nicht nur für die SRG öffentliche Gelder, sondern für die gesamte Branche?
Angesichts der Finanzierungskrise muss man das prüfen. Die Eidgenössische Medienkommission schlägt beispielsweise das Stiftungsmodell vor, das alle möglichen Arten von Medien alimentieren könnte, die gewisse Kriterien einhalten, wie Innovation und Qualität. Eine Medienförderung der Zukunft braucht Offenheit in alle Richtungen. Wichtig ist, dass die Finanzierung vom Staat entkoppelt ist.
Die SRG wirkt saturiert und manchmal selbstgefällig.
Sie können es auch Arroganz nennen. Die SRG hat sich zu lange zurückgelehnt und die Debatte verweigert, sie hat die Packungsbeilage zu ihrem Produkt nicht mitgeliefert, obwohl sie es längst hätte tun sollen und können.
Wen machen Sie dafür verantwortlich?
In der Trägerschaft hat man zu lange geschlafen. Roger de Weck scheint mir offen zu sein für eine Diskussion über den Service Public. Die Probleme liegen eher im Unternehmen, also beispielsweise bei der Direktion oder bei den Chefredaktionen. Man hätte viel früher schon das Selbstverständnis als Service-Public-Organisation explizit in öffentliche, politische Debatten einbringen sollen. Das rächt sich jetzt.