Was passiert im Philosophicum? Wir haben zum 5. Jubiläum nachgefragt

Als Ort für «freies Interesse und freie Initiative» wurde das Philosophicum Basel in der St. Johanns-Vorstadt vor fünf Jahren eröffnet. Was wird dort gemacht, und was hat Philosophie ausserhalb der akademischen Lehre für eine zeitgenössische Rolle? Die TagesWoche hat das Leitungsteam Nadine Reinert und Stefan Brotbeck gefragt.

(Bild: © Anna Krygier)

Als Ort für «freies Interesse und freie Initiative» wurde das Philosophicum Basel in der St. Johanns-Vorstadt vor fünf Jahren eröffnet. Was wird dort gemacht, und was hat Philosophie ausserhalb der akademischen Lehre für eine zeitgenössische Rolle? Die TagesWoche hat das Leitungsteam Nadine Reinert und Stefan Brotbeck gefragt.

Frau Reinert, Herr Brotbeck – das Philosophicum wurde gemäss Eigenbeschrieb als Raum für den «fragenden, forschenden, sich bildenden und kulturell tätigen Menschen» gegründet. Fehlte so ein Raum vor fünf Jahren?

Stefan Brotbeck: Die Gründungsidee und der zündende Funke waren schlicht, Philosophie mit einer freien Bildungs- und Kulturtätigkeit zu verbinden und sie ausüben zu können, ohne an eine Lehre oder akademische Zusammenhänge geknüpft zu sein. Die Philosophie ist nicht nur ein akademisches Fach, sondern muss sich im Leben bewähren.

Sie haben beide Philosophie an der Universität studiert. Braucht es die Kenntnisse des Fachkanons dafür gar nicht?

Brotbeck: Diese Kenntnisse sind sicher eine grosse Bereicherung, aber nicht ausreichend. Wenn man mit allen akademischen Wassern gewaschen ist, ist man deshalb noch nicht zwingend ein Philosoph.

Nadine Reinert: Das Philosophicum ist eher als Ergänzung zur akademischen Philosophie zu verstehen. Wir versuchen, Fragen aufzugreifen, die aus der Gesellschaft auf uns zukommen. Das kann durch den Austausch mit Privatpersonen oder Unternehmen geschehen, die in kritischen Entscheidungssituationen stehen und dafür neue Denkanregungen benötigen. Prägnant gesagt, wird hier Philosophie nicht nur als rein theoretisch-intellektuelle Spielerei betrieben, sondern für konkrete Lebenszusammenhänge ernst genommen.

Eine Kritik an der Verwissenschaftlichung der akademischen Philosophie?

Brotbeck: Nein. Wissenschaft und Erkenntnis kann man nicht hoch genug schätzen. Wir führen auch gemeinsame Veranstaltungen mit universitären Institutionen durch, und Vertreter der philosophischen Lehre begrüssen, dass Philosophie hier über den akademischen Rahmen hinaus führt. Denn die Tendenz der Überakademisierung in der Philosophie ist eine Gefahr. Der Schriftsteller und Philosoph Peter Bieri sagte einmal sinngemäss, die zunehmende Spezialisierung des Fachs auf Detailfragen führe zu Irrelevanz. Das ist eine Gefahr.

Auf der anderen Seite erfährt der Begriff der Philosophie eine ungeahnte Popularisierung: Einerseits als schöngeistige Ratgeberin, andererseits werden heute selbst Unternehmensstrategien als «Philosophie» bezeichnet. Droht die Verwässerung?

Brotbeck: Das trifft zu. Philosophische Ratgeberliteratur entpuppt sich eher als eine Entmündigungsliteratur, die gar nicht daran interessiert ist, das menschliche Denken anzuregen und daraus handlungsrelevante Perspektiven zu schöpfen. Menschen werden als bedürftig dargestellt, die Ratgeber-Häppchen brauchen, um in der Gesellschaft zu funktionieren. Philosophie wird hier als Sinnnachlieferungsinstanz benutzt – und verwässert.

Reinert: Wobei das Anliegen, Gedankeninhalte am Leben selbst zu überprüfen, nicht per se schlecht ist. Man philosophiert nicht nur um des schönen Gedankens willen, sondern um sich weiterzuentwickeln. Die Ratgebersphäre trifft also einen wichtigen Punkt, geht aber oft auf Kosten des gedanklichen Kerns, der zugunsten der schnellen Anwendbarkeit verwurstet wird.

Philosophische Beratung für Personen und Unternehmen betreiben auch Sie im Philosophicum. Wie grenzen Sie Philosophie ab gegen psychologische Überschätzung?

Reinert: Die grosse Chance der Philosophie im Gegensatz zur Psychologie ist, dass sie ohne Krankheitsbilder und Kur arbeitet, sondern nach neuen Perspektiven fragt. Viele Menschen werden von existentiellen Fragen wie etwa zum Leben nach dem Tod umgetrieben und brauchen dafür dafür einen Gesprächspartner, um im Dialog eine eigene Sichtweise zu entwickeln.

Brotbeck: Die Menschen, die das philosophische Gespräch suchen, sind keine Patienten, sondern derart gesund, dass sie Krisen nicht als Defizite empfinden. Deshalb gibts auch keine Krankenkasse für philosophische Beratung – zum Glück. Diese Menschen suchen eben nicht einfach ein neues rezeptartiges Modell, sondern wollen Fragen auf den Grund gehen. Beispielsweise, warum in unserer Gesellschaft Erfolg ein so bedeutender Wert ist. Da steckt man sogleich mitten in einer Diskussion. Sokrates, unser «Hausheiliger», ist deshalb eine passende dialogische Figur – einerseits eine Stechmücke, die die Leute mit nervigen Fragen aufscheucht, andererseits eine Hebamme, eine Geburtshelferin für neue Ideen. Diese beiden Seiten des dialogischen Philosophierens versuchen wir hier zu leben.

Das Philosophicum ist nicht nur philosophische Praxis, sondern auch Kulturort, insbesondere mit der Druckereihalle im selben Haus, deren Leitung Sie vor einem Jahr übernommen haben. Wie positionieren Sie sich als Kulturveranstalter?

Reinert: Wenn man das Philosophicum mit anderen kulturellen Einrichtungen vergleicht, stehen wir schon quer in der Landschaft. Es gibt auch im Kulturbetrieb die Tendenz, immer dem Neusten nachzueifern. Wir wollen uns eine gewisse Zeitlosigkeit erlauben. Wenn ein Buch vor zehn Jahren erschienen ist, und wir finden, es enthalte noch immer Relevanz, wollen wir uns dem widmen. Die Druckereihalle wird mehrheitlich an externe Veranstalter und Künstler vermietet. Da ist alles dabei – von klassischer und zeitgenössischer Musik bis zu Tanz, Theater, Film. Unser Fokus ist: Wir möchten eine Sparte jenseits der Sparten entwickeln.

Vielfalt erscheint jetzt schon als Charakteristikum des Hauses. Im vergangenen Jahr organisierten Sie zum Teil mehrtägige Veranstaltungen zu den Themen Gesundheitswesen, Grenzen der Satire oder zum 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern. Hat das Philosophicum zu jedem Thema etwas zu sagen, oder gibt es Grenzen?

Brotbeck: Die Grenzen sind Fanatismus und Beliebigkeit. Wenn jemand nur kommt, um eine sture Weltsicht durchzusetzen, hat er im Philosophicum nichts verloren.

Reinert: Die inhaltliche Bandbreite ist nahezu unerschöpflich, und zwar bewusst. Doch wenn wir persönlich nicht in der Lage wären, etwas gedanklich mitzukuratieren, dann ist die Grenze erreicht. Die persönliche Auseinandersetzung ist wichtig, das Philosophicum muss zu den Veranstaltungen, die hier stattfinden, selbst etwas einbringen können.

Anders gefragt: Einige bedeutende zeitgeschichtliche Themen wie etwa die Flüchtlingsdebatten kommen im Programm nicht vor. Wie wählen Sie aus?

Reinert: Die Flüchtlingsfrage ist uns ein Anliegen. Im vergangenen Herbst setzten wir im Rahmen einer Kooperation mit einem Themenabend «Zwischenstop Europa» und einem Dokumentarfilm einen ersten Akzent. Aber die personellen Kapazitäten sind eng, um unmittelbar auf die Zeitgeschichte reagieren zu können. Wenn wir ein Thema auswählen, wollen wir es gründlich durcharbeiten können…

Brotbeck: …und gerade die Flüchtlingsdebatte wird breit diskutiert und dokumentiert. Es braucht einen eigenen Zugang, um das Thema aus der Tiefe aufnehmen zu können, sonst schwimmt man einfach auf einer Diskurswelle mit. Was aber richtig ist: Uns fehlen noch Resonanz- und Vertiefungsräume, die ohne grosse Vorbereitung aktuelle Debatten und Sorgen aufnehmen können. Bei den vielen Vorarbeiten für unsere Veranstaltungen kommt der leichtfüssige Diskurs etwas zu kurz. Das soll sich ändern.

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Das Philosophicum Basel feiert am Samstag, 17. September, ab 14 Uhr mit einem Festprogramm sein fünfjähriges Jubiläum. St. Johanns-Vorstadt 19, Basel.

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