Kann Atomstrom nur durch importierten «Dreckstrom» ersetzt werden, wenn das Volk der Ausstiegsinitiative zustimmt? Oder reicht Ökostrom als Ersatz? Antworten zwischen Schönfärberei und Schwarzmalerei.
Die kleinen Atomkraftwerke Beznau I und II sowie Mühleberg müssen Ende 2017 abgeschaltet werden, Gösgen 2024 und Leibstadt 2029, wenn die Abstimmenden am 27. November die Initiative zum Ausstieg aus der Atomenergie befürworten. Der Abstimmungskampf spitzt sich auf zwei Streitfragen zu: Wie kann der wegfallende Atomstrom ab 2018 ersetzt werden? Droht ein Blackout?
Ersatz mit Öko- oder Kohlestrom?
Die Befürworter färben grün: «Wasserkraft und neue (erneuerbare) Energien garantieren unsere Versorgungssicherheit.» Schwarz malen die Gegner, angeführt von Energieministerin Doris Leuthard: Die Schweiz müsste mehr Strom importieren, primär aus Atom- und «umweltbelastenden Kohlekraftwerken». Dieser Mehrimport «gefährdet unsere Versorgungssicherheit».
Wer beurteilen will, wer näher bei der Wahrheit liegt, sollte folgende Fakten berücksichtigen und analysieren:
Wenn die Kraftwerke im Inland weniger Strom erzeugen, muss die Schweiz mehr Strom importieren. Oder sie kann weniger exportieren. Das gilt unabhängig davon, ob die Politik die Abschaltung der inländischen AKW terminiert oder ob mit Beznau I und Leibstadt zwei AKW aus Sicherheitsgründen stillstehen, wie das momentan der Fall ist. Denn der Zubau von Solar- und Windkraft im Inland kann erst einen kleinen Teil des Atomstroms ersetzen.
Damit fragt sich: Wie viel Strom muss importiert werden? Aus welchen Kraftwerken? Und wie beeinflusst das die ökologische Bilanz und die Versorgungssicherheit?
Stromproduktion auch ohne AKW gross genug
Antworten liefert eine Analyse der Produktionsdaten: 2015 erzeugten die Kraftwerke im Inland total 66 Milliarden Kilowattstunden (kWh) Strom, davon 22,1 Milliarden oder 33 Prozent in ihren fünf Atomreaktoren. Zusätzlich produzierten Schweizer Stromfirmen rund 34 Milliarden kWh Strom in Kraftwerken im Ausland, die ihnen gehören oder an denen sie beteiligt sind. Von diesen 34 Milliarden kWh Schweizer Strom im Ausland entfielen bereits 6 Milliarden kWh auf erneuerbare Energien, primär Wind- und Solarkraft.
Die Bilanz: Mit ihrer Produktion im In- und Ausland zusammen kann die Schweiz ihren Strombedarf im Inland schon heute locker decken, selbst wenn alle fünf inländischen Atomkraftwerke ausfallen. Und: Die erneuerbare Stromproduktion (ohne Wasserkraft) im In- und Ausland ist bereits grösser als die Produktion der drei kleinen AKW, die nach einem Ja zum Ausstieg Ende 2017 abschalten müssten.
Schweizer Ökostrom fliesst nach Italien
Neben der Menge zählt die Qualität der Stromerzeugung. Der Schweizer Produktionsmix im In- und Ausland enthält einen höheren Anteil an erneuerbarer Energie, aber auch an Atom- und Gaskraft als der europäische Mix. Deutlich kleiner als im europäischen Mittel ist hingegen der Schweizer Anteil an Kohlestrom sowie der spezifische Ausstoss an CO2, denn Gaskraftwerke erzeugen nur halb so viel CO2 wie Kohlekraftwerke. Die Klimabilanz der Schweizer Stromproduktion im In- und Ausland ist also besser als die europäische, und sie wird auch nach dem Atomausstieg besser bleiben.
Nicht identisch mit der Produktion ist hierzulande der Verbrauch. Denn der Schweizer Stromkonsum wird auch vom Aussenhandel beeinflusst. Gegenüber Frankreich und Deutschland, die einen hohen Anteil an Atom- respektive Kohlestrom produzieren, verbucht die Schweiz heute einen Importüberschuss. Das trübt die ökologische Bilanz unseres Stromkonsums. Gleichzeitig exportieren wir heute sehr viel Strom aus inländischen Wasserkraftwerken nach Italien – und verbessern damit die italienische CO2-Bilanz.
Importe werden steigen
Wenn die Schweiz die inländische Produktion von Atomstrom künftig stärker und schneller reduziert, als sie Strom spart oder zusätzlichen Ökostrom erzeugt, wird sie künftig tatsächlich mehr Strom importieren. Fragt sich nur, welchen Strom und von wo? Schweizer Windstrom, produziert in Nordeuropa, verbessert zwar die europäische Ökobilanz; er gelangt physikalisch aber kaum zu unseren Steckdosen, weil es an Leitungskapazität zwischen Nord- und Süddeutschland mangelt.
Trotzdem brauchen wir nicht unbedingt mehr Kohlestrom aus Deutschland, um inländischen Atomstrom zu ersetzen. Denn es gibt andere Wege. Die Schweiz kann zum Beispiel ihren Export an Strom aus inländischen Wasserkraftwerken nach Italien reduzieren. Gleichzeitig könnte sie ihre Gaskraftwerke in Italien, die im Schnitt nur 2500 Stunden pro Jahr laufen, besser auslasten – und auf diesem Weg deutschen Kohlestrom durch italienischen Gasstrom ersetzen. Damit sänke der europäische CO2-Ausstoss. Kommt dazu: Mit der Verminderung des einseitigen Stromflusses von Norden nach Süden liessen sich allfällige Engpässe im Stromnetz und Stromzusammenbrüche vermeiden.
Grossverbraucher belasten die Bilanz
Heute sind es vor allem Grossverbraucher, die in der Schweiz Atom- und Kohlestrom beziehen, nicht die Haushalte oder Kleinfirmen. Denn Grossverbraucher haben Zutritt zum europäischen Strommarkt und können ihre Lieferanten wählen. Und auf diesem von Ökodumping verfälschten Markt ist Kohlestrom heute billiger als Elektrizität aus Gaskraft.
Doch das lässt sich ändern: Politisch etwa durch eine «Dreckstrom»-Abgabe, welche die Umweltverbände auf Kohlestrom fordern (und die Wirtschaftsverbände in der Vorlage zur Energiestrategie erfolgreich bekämpften). Oder ökonomisch mit dem Abbau von Überkapazitäten in der Stromproduktion. Wenn die Stromflut schwindet, steigen die Marktpreise wieder und erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit von Strom aus Wasser- oder Gaskraft.
Fazit: Wir haben weitgehend die Wahl, wie viel und welchen Strom wir nach dem Ausstieg aus der Atomkraft importieren und ob wir damit ein Blackout riskieren.