In den vergangenen Monaten hat das Recherchezentrum Correctiv, gemeinsam mit Journalisten aus sieben Ländern, einen Datenschatz gehoben und macht ihn hier erstmals der Öffentlichkeit zugänglich.
Seit dem Jahr 1933 hat eine britische Behörde, der Permanent Service of Mean Sea Level (PSMSL), die Fluthöhen von Häfen in aller Welt gesammelt. An mehr als 2000 Orten haben die Briten Pegelmesser aufgestellt und sie zum Teil im Monatsrhythmus abgelesen. Es ist die anschaulichste Methode, die Folgen des weltweiten Klimawandels zu messen. Satellitengestützte Messungen gibt es erst seit dem Jahr 1993.
Wir haben 500 Orte ausgewählt, die besonders gut dokumentiert sind, und auf einer Weltkarte markiert. Die Karte ermöglicht nicht nur einen Blick in die Vergangenheit – sie sagt auch, wie sich die Pegel in Zukunft verändern werden. «Dort, wo das Meer stark angestiegen ist, wird es künftig weiter stark ansteigen», sagt Anders Levermann, Klimafolgen-Forscher in Potsdam und New York.
Levermann ist Hauptautor des letzten Weltklimaberichtes des Internationalen Klimarates IPCC und hat damit die Weichen gestellt für einen wissenschaftlichen Konsens. Sich ändernde Strömungen könnten den Meeresspiegel lokal beeinflussen, fügt Levermann hinzu. Der globale Trend aber bleibe.
Kein Kontinent wird dem anschwellenden Wasser entkommen können. So steht das Meer heute im südfranzösischen Marseille 10 Zentimeter höher als vor 30 Jahren. Auf der Nordseeinsel Borkum sind es 6 Zentimeter – wo man 1980 noch trockenen Fusses stehen konnte, braucht man jetzt Gummistiefel.
Die am stärksten betroffenen Städte liegen vor allem in Asien. Die philippinische Hauptstadt Manila beispielsweise misst 40 Zentimeter höhere Pegel als noch vor 30 Jahren.
Zugleich dokumentiert unsere Karte einen für viele überraschenden Effekt: In nordischen Ländern steigt das Land schneller als das Wasser. Manche Häfen liegen buchstäblich auf dem Trockenen. In der westfinnischen Stadt Vaasa hat sich das Land nach unseren Daten seit 1985 um fast 10 Zentimeter gehoben, in der nordnorwegischen Stadt Bodø sogar um 25 Zentimeter.
Der Grund: Die einst von kilometerdicken Eispanzern zusammengepresste Erdkruste dehnt sich nach dem Wegschmelzen der Gletscher bis heute aus.
Wie stark der Meeresspiegel steigt, hängt davon ab, wie viel Eis an den Polen schmelzen wird. Die kalte Materie ist schwer berechenbar: Sie schmilzt schneller oder langsamer, je nach dem wie viel Luft darin eingeschlossen ist und wie dicht und alt das Eis ist. Wasser wiederum erwärmt sich langsamer als Luft und hält die Wärme dafür länger.
Zurzeit simulieren Forscher um Detlef Stammer vom Hamburger Institut für Meereskunde auf ihren Computern, wie sich verschiedene Faktoren auf den Meeresspiegel auswirken, massgeblich die Sonnenstrahlung, die wiederum abhängig ist von CO₂ und Aerosolen in der Atmosphäre. «Am Ende beweist sich für uns: Eine Vorhersage ist extrem schwierig», sagt Stammer. Sicher sei nur, dass die weltweiten Trends bestehen blieben.
Augenblicklich gehen die Forscher im Weltklimarat IPCC von einem globalen Anstieg des Meeresspiegels um 20 bis 80 Zentimeter bis zum Jahr 2100 aus. Bis zum Jahr 2200 oder 2300 könnten es einige Meter werden. Eine enorme Spannbreite, die über die Lebensweise von Hunderten Millionen Menschen entscheiden wird. Zuletzt wurden die Prognosen stark nach oben korrigiert.
Allein das Abschmelzen der Eisschilde in Grönland könnte die Meere weltweit um sieben Meter ansteigen lassen.
«Dass der Meeresspiegel in den kommenden Jahrhunderten noch schneller ansteigen wird, ist heute absoluter Konsens – und auch, dass dies an der menschengemachten Erwärmung liegt», sagt Klimafolgen-Forscher Levermann. Wobei sich die Forscher uneins sind, wie sich die Eisschilde an den Polen verändern werden. «Sehr wahrscheinlich haben wir ihren Einfluss bisher unterschätzt.» Laut Levermann könnten allein die Eisschilde Grönlands, sollten sie eines Tages komplett abschmelzen, die Meere um weltweit sieben Meter ansteigen lassen.
Der Mensch lebt seit jeher an den Küsten dieser Erde. Bis heute wachsen Städte am Wasser besonders schnell und ziehen doppelt so viele Menschen an wie das Landesinnere.
«An der Küste konzentriert sich die soziale, ökonomische und politische Entwicklung eines Landes», sagt Darryl Colenbrand aus dem südafrikanischen Kapstadt. Das Fehlen von Daten bezeugt einmal mehr die wirtschaftliche Isolation Afrikas: Nur in Südafrika und auf Sansibar wurden Fluthöhen aufgezeichnet. Weitere Häfen schienen den britischen Beamten nicht wichtig genug, um dort die Pegel zu messen.
Unsere Daten zeigen auch: Der Klimawandel trifft die Menschheit unterschiedlich hart. Das Meer steigt weltweit, aber Wind, Strömungen und Wellen beeinflussen den Pegel vor Ort. In einigen Regionen steigt der Meeresspiegel um zehn Millimeter pro Jahr, dreimal schneller als im weltweiten Durchschnitt. Der liegt bei rund 3,4 Millimetern pro Jahr.
Sicher ist nur: Je näher und tiefer gelegen Menschen am Meer wohnen, desto stärker werden sie unter dem Klimawandel leiden. Teile der Philippinen könnten untergehen, Inseln mit eigenen Sprachen und Kulturen versinken. Millionen Menschen in Bangladesch sind bedroht, einem der am niedrigsten liegenden Staaten der Erde.
Überhaupt haben die Staaten des Südens häufig nicht genügend Ressourcen, um sich vor Stürmen und Hochwassern zu schützen. Afrikanische Länder investieren lieber in bald nutzbare Strassen und Krankenhäuser als in Deiche.
Die wohlhabenden Staaten sind besser gewappnet. Die verheerende Sturmflut an der europäischen Nordseeküste von 1953 hat dort beispielsweise zu besseren Schutzmassnahmen geführt. Das zahlt sich bis heute aus. Aber auch europäische Bürgerinnen und Bürger werden ihre Wohnorte verlassen müssen.
Genau wie Nordamerikaner: Der Sturm Harvey über Houston hat diesen Herbst auf tragische Weise gezeigt, wie wenig die USA getan haben, um ihre Küsten zu schützen. Auch die luxuriösen Häuser am Delta des Rio Parana in Argentinien drohen unterzugehen. Und in Südfrankreich, in Palavas-les-Flots, drohen Hotels und Strandbars in den Fluten zu versinken.
In Japan versuchen Wissenschaftler, Korallenriffe zu züchten, um mit Hilfe der Natur lebende Barrieren gegen das steigende Wasser aufzubauen. Und noch eine gute Nachricht gibt es: Der Klimawandel lässt die Menschheit zum ersten Mal an globalen Lösungen arbeiten.
Was also tun? Wir stellen vier Positionen vor
- Laurence Tubiana war 2015 französische Verhandlungsführerin beim UN-Klimagipfel und ist heute Geschäftsführerin der European Climate Foundation. Auch wenn die Euphorie nach dem Pariser Weltklimagipfel inzwischen verhallt ist, Tubian sieht darin bis heute ein Signal der Hoffnung. Internationale Verträge hätten dazu geführt, dass sich selbst die mächtige Kohleindustrie nach Alternativen umsehe.
- Ottmar Edenhofer, ein auf Klimafolgen spezialisierter Ökonom vom Berliner Mercator-Institut, hofft auf eine weltweite CO₂-Steuer. Sie würde klimaschädliche Energieträger wie Kohle teuer und damit unattraktiv machen. Und zugleich Geld beschaffen für die Opfer des Klimawandels.
- Eine weitere, bisher wenig beachtete Lösung, die erstmals in Paris präsentiert wurde, besteht in einer neuen Landwirtschaft. Denn ein gesunder, humusreicher Boden kann CO₂ speichern.
- Correctiv-Klimaredakteurin Annika Joeres setzt auf aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger, die ihren Rohstoff-Konsum drosseln: Ein klimafreundlicher Alltag kann für alle lebenswert sein. Und er könnte die Meere, die weltweit anschwellen, wieder in ihre Schranken weisen.
Annika Joeres ist Journalistin des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV. Das Recherchezentrum finanziert sich ausschliesslich über Spenden und Mitgliederbeiträge. Mehr dazu auf https://correctiv.org/unterstuetzen/.
Felix Michel erhielt ein Stipendium von Google News Lab, um als Datenjournalist bei CORRECTIV am Projekt «Steigende Meere» mitzuarbeiten.