Verfilzter Bart, ungepflegte Fingernägel, drogenabhängig. Das ist unser Bild von wohnungslosen Menschen. Zahlen vom Gassenverein «Schwarzer Peter» zeigen: Immer mehr Menschen aus dem unteren Mittelstand leben in «versteckter Obdachlosigkeit» – zunehmend auch Frauen.
Sie fährt mit ihren lackierten Fingernägeln über den Tisch, die geschminkten Lippen zusammengepresst. Vor einigen Jahren wurde Alexandra* aus ihrer Wohnung geworfen. Sie stand plötzlich auf der Strasse und musste sich eine Notlösung suchen. Zwei Jahre lebte sie zusammen mit ihrem Freund in prekären Verhältnissen und musste bei der Sozialhilfe um ihr Geld kämpfen.
Alexandra ist eine von etwa 300 Personen, die ihre Adresse beim Verein für Gassenarbeit «Schwarzer Peter» angeben – beziehungsweise früher so angaben. Der Verein dient unter anderem als Postfach für Menschen ohne feste Wohnung. Der Gassenarbeiter Michel Steiner zeigt die vollen Schränke mit der Post der Wohnungslosen.
«Vor Abstimmungen ist es am schlimmsten», sagt Steiner. Dann kommen die Abstimmungsunterlagen für etwa 300 Personen auf einmal, der Postbote liefert dann ein grosses Paket beim Schwarzen Peter ab.
Alexandra kam zum Schwarzen Peter, als sie ihre Wohnung verlor. Es gab Streit mit der Sozialhilfe, das Geld für Wohnbedarf wurde gestrichen und sie flog aus der Wohnung. Von einem Tag auf den anderen stand sie sozusagen auf der Strasse. Als Notlösung zog sie zu ihrem Freund in eine kleine 2-Zimmerwohnung.
Die offizielle Adresse hatte Alexandra aber beim Schwarzen Peter, nur so kriegte sie das Geld von der Sozialhilfe, das sie zum Leben brauchte.
Mal hier, mal da, bei Bekannten, bei Verwandten
Die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung war für sie sehr schwierig – fast unmöglich, wie sie sagt. Die Wohnung darf ohne Nebenkosten nicht mehr als 700 Franken kosten, mehr zahlt die Sozialhilfe nicht. Und mit den kleineren Jobs, die sie machte, konnte sie sich keine teurere Wohnung leisten.
Für Sozialhilfe-Empfänger sei die Wohnungssuche noch schwieriger, erklärt Steiner. Wenn die bisherige Adresse beim Schwarzen Peter angegeben sei, wissen die Immobilienfirmen meist Bescheid: ohne festen Wohnsitz, Sozialhilfe-Empfänger.
Die Zahl der Meldeadressen hat beim Schwarzen Peter in den letzten Jahren massiv zugenommen. 2010 waren es 213 Personen, die sich beim Schwarzen Peter meldeten, in diesem Jahr rechnet Michel Steiner mit gesamthaft 500 Personen. Steiner schliesst daraus, dass in Basel immer mehr Menschen in versteckter Obdachlosigkeit leben – also wochenweise mal hier, mal da, bei Bekannten, bei Verwandten.
Bei anderen sozialen Einrichtungen mit einem niederschwelligen Angebot wird diese Einschätzung nicht geteilt. Die Wohnungsnot sei unverändert auf einem hohen Stand. Die Leiterin der Sozialhilfe Basel, Nicole Wagner, sagt, man habe keine Hinweise darauf, dass es mehr Menschen ohne festen Wohnsitz gebe: «In der Notschlafstelle gibt es noch freie Betten.»
Menschen aus dem unteren Mittelstand
Geben die freien Betten in der Notschlafstelle Auskunft über die Situation der Obdachlosen? Kaum. Rolf Mauti kennt die Situation der Randständigen, er war mehrere Jahre obdachlos in Basel. Er nennt die Notschlafstelle «eine einzige Katastrophe»: «Ich habe auf jeder Baustelle besser geschlafen.» Er rate niemandem, auf der Notschlafstelle nachts und barfuss auf die Toilette zu gehen.
Heute macht Rolf Mauti soziale Stadtrundgänge, die Basel aus Sicht von Randständigen zeigen. Er hat mittlerweile wieder ein Dach über dem Kopf und verdient seinen Unterhalt als Stadtführer.
Nimmt das Phänomen «versteckte Obdachlosigkeit» immer mehr zu? Die Frage ist schwierig zu beantworten, da es keine Statistik gibt, in der die Personen ohne feste Wohnadresse auftauchen. Die Zahlen des Schwarzen Peter sind ein wichtiger Indikator für einen Anstieg – aber sie lassen sich schwer erhärten.
Der Gassenarbeiter Michel Steiner meint, dass sich die Klientel der Obdachlosen gerade verändert. «Heute ist es nicht mehr die klassische Stammklientel, die bei uns an die Türe klopft. Seit zwei bis drei Jahren kommen Leute zu uns, von denen ich es niemals annehmen würde.»
Arbeiter aus dem unteren Mittelstand, Frauen wie Alexandra. Es brauche heute nur wenig, dass jemand aus dem System rauskippt, sagt Steiner.
«Wir wollen keine Messis»
Das Verhältnis Frauen-Männer sei etwa ausgeglichen bei Menschen ohne festen Wohnsitz. Bei Obdachlosen, die im klassischen Sinne unter der Brücke schlafen, sei der Anteil der Frauen nur etwa ein Viertel, so Steiner.
Die Problematik ist komplex. Ist es die Wohnungsknappheit, sind es die präkeren Verhältnisse, die dazu führen, dass Leute aus dem unteren Mittelstand von der Wohnungsnot betroffen werden?
Politische Vorstösse zur Bekämpfung der Wohnungsnot gibt es beispielsweise von der linken Partei BastA!. Auch in der SP werden solche Ideen diskutiert: Die Anlaufstelle für Wohnungssuchende stärken? Mehr Kompetenzen für die Sozialhilfe? Mehr subventionierte Wohnungen?
Am Ende bleibt unklar, was Menschen wie Alexandra helfen könnte.
Seit einiger Zeit ist sie wieder auf Wohnungssuche. Sie will mit ihrem kranken Bruder und einem «guten Kollegen» zusammenziehen. Eine behindertengerechte 4-Zimmerwohnung wäre perfekt. Aber mit ihren Voraussetzungen ist das schwierig. Das Schlimmste sind für sie die Vorurteile. «Wir nehmen keine IV-Bezüger, Sozis oder andere Wohnnomaden. Das sind alles Messis – so denken die Leute bei der Immobilienfirma.»
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* Name geändert.
Artikelgeschichte
– Auf Hinweis von Michel Steiner: Zahl der gesamthaft gemeldeten Personen beim Schwarzen Peter 2014 auf 500 korrigiert (Schätzung). Und im Zuge dessen: Vergleichszahl von 2010 auf 213 Personen angepasst.