Der Schweizer Heimatort ist ein Relikt, er hat keine politische oder gesellschaftliche Bedeutung mehr – aber wie sieht es mit der emotionalen aus? Ein Selbsttest mittels Einbürgerung.
Heimat ist ein diffuses Gefühl. Darauf angesprochen, was denn Heimat für mich bedeute, antworte ich meist zuerst mit einem «Weiss nicht». Dann folgt Nachdenken und das Eingeständnis, dass ich es tatsächlich nicht weiss.
Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass sich mir die Frage nach Heimat eigentlich nur stellt, wenn ich weg bin. Weit weg. Wenn ich Dinge zu vermissen beginne, die sich mit einem Heimatbegriff in Verbindung bringen lassen. Das können Menschen, aber auch Dinge sein. Architektur beispielsweise, aber auch Gerüche oder Erlebnisse.
Frage ich meinen Pass, so finde ich dort unter dem Eintrag «Heimatort» das Wort «Oberhelfenschwil SG». Ich schreibe bewusst «Wort», denn mit dem Ort verbindet mich nichts – ausser diesem Eintrag. Ich war nie da, und es zieht mich auch nicht da hin.
Ein letzter Anruf
Soll ein Luftkurort sein, sagt man mir. Alles, was ich weiss, ist, dass die 16 Buchstaben von Oberhelfenschwil nie Platz haben, wenn ich irgendwo meinen Heimatort angeben muss. Und dass die Gemeinde sich kein eigenes Zivilstandsamt mehr leistet.
Letzteres habe ich erfahren, als ich vor Kurzem dort anrufen musste, um mir eine Personenstandsanzeige zu bestellen. Gelandet bin ich bei der Gemeindeverwaltung Wattwil beziehungsweise beim Zivilstandsamt Toggenburg.
Die Personenstandsanzeige habe ich aus einem einzigen Grund gebraucht: Um mich in Basel einbürgern zu lassen. Wieso? Aus reiner Neugier – um herauszufinden, was das in mir auslöst.
Werde ich ein schlechtes Gewissen haben, weil ich den Heimatort meiner Ahnen väterlicherseits aufgebe? Werden nostalgische Gefühle dazu führen, dass ich plötzlich doch noch nach Oberhelfenschwil fahren will? Werde ich mich stärker als Baslerin fühlen?
Oder wird vielleicht einfach gar nichts passieren, weil der Heimatort eben nichts Weiteres mehr ist als ein paar Buchstaben?
Bratwurst mit Senf
Seit nunmehr 25 Jahren befindet sich mein Lebensmittelpunkt in Basel, ich habe hier die Schule beendet, studiert und ich arbeite hier. Auch meine Tochter wurde hier, im «Fraueli», geboren. Wenn ich für irgendeinen Ort überhaupt Heimatgefühle aufbringen sollte, dann am ehesten für die Stadt am Rheinknie.
Auch wenn mein Ostschweizer Dialekt noch durchdringt – das «Salat» statt «Salot» will einfach nicht über meine Lippen kommen. Aber ich esse inzwischen Bratwürste mit Senf und kenne den Ablauf des «Vogel Gryff». Immerhin.
Das Einbürgerungsgesuch ist schnell bestellt.
350 Franken soll der Spass kosten, plus 150 Franken für den Verzicht aufs alte Bürgerrecht, sagt man mir. Eine Flut von Papieren bringt mir der Pöstler ins Haus, eine ebenso grosse Flut verlässt es wieder, nachdem ich all die Papiere zusammengestellt habe, die verlangt werden – und die natürlich extra kosten: ausgefülltes Gesuch, Personenstandsanzeige (62 Franken für mich und meine Tochter), Verzichterklärung fürs alte Bürgerrecht, Auszüge aus dem Betreibungs- und Konkursregister (je 18 Franken), Steuerausweis (40 Franken).
Jetzt ist der Moment da, mich zu fragen, warum ich das tue: Lohnen sich die 620 investierten Franken? Denn was bringt mir das eigentlich, den Heimatort zu wechseln?
Die Antwort ist einfach: Nichts. Zumindest nichts Materielles. Ich darf zwar nach erfolgtem positivem Bescheid Zünften beitreten und den Bürgerrat wählen, aber ich hab auch ohne das recht gut gelebt.
Höchstens Phantomschmerz
Ansonsten hat der Schweizer Heimatort keine Bewandtnis mehr. Er ist ein Relikt. Punkt. Vorbei sind die Zeiten, als der Bürgerort zuständig war, wenn jemand verarmte.
Heute gilt das Wohnortsprinzip: Sozial unterstützt wird man dort, wo man Steuern zahlt. Höchstens Rabatt gewähren einzelne Gemeinden wie Pratteln auf gewisse Leistungen noch – zum Beispiel auf das Ster Holz, das man einmal jährlich abholen kann.
Die meisten Schweizer und Schweizerinnen sind genau zweimal im Leben auf den Heimatort angewiesen: Wenn sie einen Heimatschein für ihre erste eigene Wohnung in einer neuen Gemeinde brauchen oder wenn sie heiraten.
Den Heimatort zu wechseln, das hat heute also höchstens noch ideellen Charakter. Ihn zu verlieren, zum Beispiel durch Gemeindefusion, führt höchstens zu einem Phantomschmerz.
So auch bei mir. Weder das schlechte Gewissen noch die Nostalgie haben sich bis heute eingestellt. Und doch ist der Heimatort eine reine Gefühlssache, so wie die Frage nach der Heimat überhaupt: Es geht um das Gefühl der Zugehörigkeit. Und irgendwie ist es schöner, einem Ort zuzugehören, den man kennt.
Deshalb bin ich zum Schluss gekommen: Wenn schon Heimat, dann Basel. Darunter kann ich mir wenigstens etwas vorstellen.